„Ich empfinde die aktuelle Situation der katholischen Kirche als dramatisch“, erklärt Julia Knop. Fernab jeglicher Übertreibung fährt die Professorin für Dogmatik an der Universität Erfurt fort: „Ich habe den Eindruck, dass wahnsinnig viel auf dem Spiel steht, und ich denke, dass sich in den nächsten zwei, drei Jahren entscheidet, welche Zukunft die katholische Kirche in Deutschland hat: ob es ein vitaler, an der Gegenwart orientierter Katholizismus ist oder ein auf ein ganz bestimmtes Milieu verengter Retrokatholizismus.“ Ihre Prognose wirkt erschreckend, umso mehr, da sich die drohende Bedeutungslosigkeit der Kirche in ihren Zahlen widerspiegelt: Allein im vergangenen Jahr verließen hierzulande mehr als 200.000 Gläubige ihren Schoß. Damit ist 2018 das Jahr mit den zweitmeisten Kirchenaustritten seit dem Zweiten Weltkrieg. Für die Theologin „ein Katastrophenjahr“.

Im ‚Auge des Sturms‘ stehen dabei Themen, die an sich nicht neu sind: Es geht um kirchliche Sexualmoral, um priesterliche Lebensformen und um die Gleichberechtigung der Frau am Altar. Eigentlich ‚ein alter Hut‘, konstatiert die Wissenschaftlerin: „Diese Themen sind seit 40, 50 Jahren im Gespräch.“ Neu ist allerdings, dass man all diese Themen auch im kirchlichen Diskurs unter Zuhilfenahme eines politisch aufgeladenen Machtbegriffes debattiert. Macht, nicht in einem göttlich-legitimierten, sondern in einem ganz irdischen und damit fehlbaren Sinne: Macht zwischen Rom und der Ortskirche. Macht zwischen Klerikern und kirchlichen ‚Laien‘. Macht zwischen den Geschlechtern.

Und neu ist die Brisanz, mit der diese Debatte geführt wird. Ebenso wie die öffentliche Resonanz, die sie erfährt: „Die Grundakzeptanz seitens der Gläubigen ist nicht mehr da“, kommentiert Julia Knop die Haltung vieler Katholikinnen und Katholiken. „Man will es einfach nicht mehr hinnehmen: das Verschweigen kirchlicher Gewalt, die pseudoreligiöse Relativierung von Macht, die Sonderdiskurse, durch die vormoderne Vorstellungen und Strukturen fixiert werden sollen.“ Und dass man es nicht mehr hinnehmen will, dieser Umstand verdankt sich einem zunehmend kritisch-konstruktiven Diskurs, der gegen das strukturkonservative Denken vieler Kirchenverantwortlichen aufbegehrt. Einem Diskurs, den die Theologin nicht nur mitgestaltet, sondern in seiner aktuellen Form vielleicht sogar mitangestoßen hat.

„Die Kirche hat jeglichen Kredit verspielt.“

Prof. Dr. Julia Knop

Doch der Reihe nach. Was ist geschehen? Im Frühjahr 2019 traf sich im niedersächsischen Lingen die Deutsche Bischofskonferenz zu einem Studientag in dessen Mittelpunkt „Die Frage nach der Zäsur“ stand. Der Studientag sollte übergreifende Fragen behandeln, die sich gegenwärtig stellen. Er war damit eine Antwort auf die sogenannte MHG-Studie, die 2018 das schreckliche Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen durch Kleriker ans Licht der Öffentlichkeit gebracht hatte.

Julia Knop, die seit 2016 die Professur für Dogmatik an der Universität Erfurt innehat, war eingeladen, den Studientag zu eröffnen und zu moderieren. Vielleicht mag manch einer der Organisatoren diese Einladung im Nachhinein bereut haben, denn die gebürtige Münsterländerin ging mit den Oberhirten der katholischen Kirche hart ins Gericht: Vor den Augen und Ohren der versammelten deutschen Bischöfe prangerte sie an, dass die Kirche durch ihr unterlassenes Handeln im Missbrauchsskandal „jeglichen Kredit verspielt“ habe. Dass dringend notwendige Debatten, die spätestens zur Aufarbeitung – vielleicht auch schon zur Prävention – der Missbrauchsfälle geführt hätten werden müssen, nicht nur „nicht gewünscht, sondern tabuisiert“ worden seien. Dass „systemische Defekte“ nicht länger zu leugnen seien.

Das Medienecho, das die Dogmatikerin damit auslöste, war groß. Kaum eine katholische Zeitung, die nicht über die Ereignisse in Lingen berichtet hätte. Doch auch abseits des öffentlichen Radars erreichten die Wissenschaftlerin zahlreiche Rückmeldungen. Ihre Worte seien „mutig“ gewesen, urteilten insbesondere Kolleginnen und Kollegen und bekannten damit, dass das angstfreie Sprechen in der katholischen Theologie auch im Jahr 2019 keine Selbstverständlichkeit ist. Auf kirchliche Laien hätten ihre Worte „erleichternd“ gewirkt, denn endlich habe „sich mal jemand getraut, den Mund aufzumachen.“

Den Mund aufzumachen und sich an prominenter Stelle Gehör zu verschaffen – genau das hat Julia Knop als ihre ureigene Verantwortung wahrgenommen. „Man hatte mich schließlich eigens dazu eingeladen, in Lingen zu sprechen“, betont sie. „Dabei war auch immer klar, welche Rolle ich einnehmen würde: dass ich nicht nur Wortmeldungen moderieren, sondern auch einen inhaltlichen Einstieg anbieten würde. Natürlich kann man da nicht erwarten, dass man nur bequeme Themen anspricht.“ Bequem war es sicher nicht, was die Professorin in Lingen auf den Tisch packte, aber aus ihrer Sicht dringend notwendig.

„Es geht um nicht weniger als die Frage, ob der pluralismusfähige Katholizismus eine Zukunft hat.“

Prof. Dr. Julia Knop

Die Versammlung der Bischöfe endete mit dem Beschluss, einen „synodalen Weg“ in Deutschland einzuleiten. Er soll Reformprozesse in der katholischen Kirche anstoßen und damit zur Erneuerung derselben beitragen. Dass es zu einer solchen Entscheidung kommen würde, war im Vorfeld des Studientages nicht abzusehen. „Während des Studientages hat sich eine Dynamik entwickelt, die mit Händen geradezu greifbar, aber keinesfalls im Vorfeld planbar war“, resümiert Knop. Waren es dabei vielleicht sogar erst die schonungslosen Worte der Theologin, die den synodalen Weg mit aus der Wiege gehoben haben? Über ihren eigenen Anteil am Beschluss zum synodalen Weg urteilt die Dogmatikerin: „Es war eine ganze Reihe von Leuten, die da gut zusammengespielt haben: in der Vorbereitung, seitens der Referenten und Gäste, deren Anwesenheit und Engagement sehr wichtig war. Aber ich glaube, der Freimut aller Beteiligten zum offenen Wort, ob in den Impulsen, im Plenum oder in den Arbeitsgruppen – der der hat viel bewirkt.“

Der Mut zum offenen und bewusst kritischen Wort, aber auch zur Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen ist Julia Knop wichtig. Auch, weil es genau diese Schlüsselkompetenzen braucht, um die katholische Kirche nicht mehr länger nur mit gutem Willen ‚künstlich zu beamten‘, sondern sie wieder lebens- und gesellschaftsfähig zu machen. Denn mit Blick auf die beständig rückläufigen Kirchenmitgliedszahlen in Deutschland sieht die Wissenschaftlerin langfristig die Gefahr einer „Milieuverengung“. Gemeint ist, dass nur die „vermeintlich aufrechten Katholiken“, also die konservativen und institutionsaffinen Mitglieder der katholischen Kirche treu bleiben, während sich „kritischere Geister nach und nach verabschieden, weil sie keine Zukunft sehen“, formuliert sie ihre Bedenken: „Es geht um nicht weniger als die Frage, ob der pluralismusfähige Katholizismus eine Zukunft hat.“

„Wir brauchen eine Selbstverpflichtung der Kirche auf heutige Standards.“

Prof. Dr. Julia Knop

Derzeit wird der synodale Weg in Deutschland vorbereitet. Ab 2020 soll er umgesetzt werden. Dazu wurden Arbeitskreise – sogenannten Foren – eingerichtet, die sich einleitend mit den zentralen Themen der Krise beschäftigen: „Sexualmoral“, „Priesterliche Lebensform“ sowie „Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“ und „Macht, Partizipation und Gewaltenteilung“. Julia Knop wirkt als Teilnehmerin des letzteren Forums an dieser Agenda mit.

Ihre Forderungen dabei sind klar: „Wir brauchen eine Selbstverpflichtung der Kirche auf heutige Standards.“ Standards, wie sie sich aus einem gesamtgesellschaftlichen Wandel zugunsten einer liberalen Wertehaltung ergeben: „Standards des freien Diskurses sowie Standards des demokratischen Zugangs zu gemeinsamen Fragen“, erörtert sie. „Beteiligung darf nicht heißen: Wir delegieren mal ein paar Aufgaben des Klerus‘ an Ehrenamtliche, weil wir ohnehin zu wenig Priester haben. Es muss stattdessen eine breite und langfristige Beteiligung kompetenter Gläubiger an der Leitung und Gestaltung der Kirche geben!“

Dafür brauche es aber vor allem eines: einen „glaubhaften Mentalitätswandel“. Das nach wie vor seitens zahlreicher Kirchenherren gelebte „Kontrolldenken“ und „Autoritätsgehabe“ sei schlichtweg „nicht mehr zeitgemäß“, befindet die Theologin, der nicht nur die Freiheit der Wissenschaft, sondern auch die generelle Freiheit im Denken und Sprechen aller Gläubigen ein großes Anliegen ist. Aber ein solcher Wandel brauche eben Zeit. Zeit, die die katholische Kirche strenggenommen nicht mehr habe.