Über das „Schwert der Wissenschaft“ etwas bewegen, auf gesellschaftliche Missstände hinweisen und Diskurse anstoßen – etwas, das Marcel Helbig, Professor für Bildung und Soziale Ungleichheit an der Uni Erfurt und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), mit seinen verschiedenen Studien verfolgt und ihn antreibt. Als gefragter Experte für das Themengebiet soziale Ungleichheit – insbesondere in den Bereichen Bildungs- und Stadtsoziologie – steht er mittlerweile regelmäßig in der Öffentlichkeit und macht auf soziale Problemlagen aufmerksam…

Dabei habe er die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Laufbahn und das Thema Ungleichheit erst relativ spät für sich entdeckt. „Gegen Ende des Master-Studiums an der HU Berlin wurde mir durch Seminare im Bereich der Bildungssoziologie immer mehr bewusst, wie ungerecht das deutsche Schulsystem ist und wie sehr die Bildungswege davon abhängen, in welchem Elternhaus man geboren ist“, führt er aus: „Und oftmals wird in der Öffentlichkeit nicht reflektiert, dass es dafür durchaus strukturelle Gründe gibt. Darauf hinzuweisen, war mir immer wichtig.“ Helbig selbst stammt aus einer Arbeiterfamilie und erinnert sich noch an seine anfänglichen Zweifel hinsichtlich eines Studiums. Bildung im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit zählt bis heute zu einem seiner zentralen Forschungsthemen. Vor diesem Hintergrund legt der gebürtige Erfurter mittlerweile auf das Thema der Privatschulen ein besonderes Augenmerk. „Bei der sozialen Zusammensetzung von privaten und öffentlichen Schulen sieht man die Ungleichheit einfach extrem. Und in der Gesellschaft gilt es als normal, dass sich eben nicht jeder den Besuch einer Privatschule leisten kann.“ Dies stehe jedoch dem Grundgesetz entgegen, denn: „Private Schulen müssen für alle Kinder offenstehen, deswegen bekommen sie schließlich auch Förderung vom Staat“, erklärt der Sozialwissenschaftler.

„Ich wollte weniger Theorien aus dem wissenschaftlichen ‚Elfenbeinturm‘ nacheifern, als vielmehr schauen, inwieweit die jeweilige Fragestellung relevant für die Gesellschaft ist.“

Prof. Dr. Marcel Helbig

Über die intensivere Betrachtung der Privatschulen in Berlin entwickelte sich die soziale Spaltung in Städten zu einem weiteren Forschungsstrang, zu dem er gemeinsam mit Stefanie Jähnen vom WZB im vergangenen Jahr eine vielbeachtete Studie veröffentlichte. „Die Studie zur sozialen Segregation wurde unglaublich breit in der Öffentlichkeit angenommen. Innerhalb von zwei Tagen hatten wir fast 100 Pressemeldungen“, erzählt Helbig. Und nicht nur das. Für den Sozialforscher folgten darauf Fernsehauftritte und mehr als 40 Vorträge. Neben diversen Veranstaltungen in Erfurt standen u.a. Termine in verschiedenen Stadträten, bei dem Gesamtverband der Wohnungswirtschaft und auch in der Kabinettssitzung von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern auf dem Programm. Was ihn dazu motiviert? „Über diese ganzen Geschichten sammelt man gute Verbindungen in Stadt und Land – am Ende die Verbindungen, die es braucht, um lokal etwas bewegen und mitreden zu können.“ So arbeitete Helbig aktuell beispielsweise am zweiten Thüringer Sozialstrukturatlas mit, der neben der Analyse sozialer Problemlagen, auch klare Handlungsempfehlungen an die politischen Entscheidungsträger beinhaltet.

Etwas, das seinen verschiedenen Studien gemein ist: Valide Daten als Forschungsgrundlage und eine starke Ausrichtung an der Öffentlichkeit. Denn bereits durch erste Veröffentlichungen während seiner Dissertationszeit wurde dem heute 39-Jährigen bewusst, dass Wissenschaft durchaus in die Gesellschaft wirken kann – ein Aspekt, der handlungsleitend für seine weitere Forschung werden sollte. „Ich wollte weniger Theorien aus dem wissenschaftlichen ‚Elfenbeinturm‘ nacheifern, als vielmehr schauen, inwieweit die jeweilige Fragestellung relevant für die Gesellschaft ist – und im weiteren Schritt, wie man mit den vorliegenden Ergebnissen eine positive Veränderung erzielen kann.“

„Als Forscher erzähle ich den Leuten natürlich nicht, was sie tun sollen. Vielmehr lege ich den Finger in die Wunde und versuche den jeweiligen Entscheidungsträgern Input und Argumentationsgrundlagen zu liefern.“

Prof. Dr. Marcel Helbig

Ob es bei all der positiven Resonanz auch Schattenseiten gibt? „Ist ein Thema einmal in der Öffentlichkeit, gibt man es auch immer ein bisschen aus der Hand – je nachdem, welche Prämisse die Journalisten setzen.“ So wurde in den Meldungen zur Segregationsstudie oft von „Ghettoisierung“ gesprochen, „obwohl wir diesen Begriff nur an einer Stelle im Zusammenhang mit dem USA verwendet haben“, gibt er zu bedenken. Und nicht nur deswegen müsse man sich als Forscher ein „dickes Fell“ zulegen, wenn man Studien veröffentlicht, die sich auch an die Öffentlichkeit richten. „Für die ein oder andere Aussage, bekommt man auch schon mal Gegenwind. Als ich beispielsweise in einer Lokalzeitung direkt eine Privatschule in der Nähe kritisierte, sorgte dies insbesondere bei Facebook für große Aufregung“, erinnert sich Marcel Helbig. Und trotz des Trubels sei das Thema nach zwei Tagen wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden – somit auch ohne politische Konsequenzen.

„Am Ende braucht es eben immer noch die Politik oder Zivilgesellschaft, die auf ein Thema ‚aufspringen‘ muss. Deswegen darf man als Forscher nicht glauben, die Welt retten zu können“, erklärt er mit einem gewissen Pessimismus, der ihn jedoch nicht davon abhält, immer wieder in die Öffentlichkeit zu gehen, Debatten anzustoßen und so Themen auf die politische Agenda zu bringen. Die Überzeugung und die Gewissheit, für eine wichtige Sache einzustehen, treiben den Sozialwissenschaftler an. Was er aber betont: „Als Forscher erzähle ich den Leuten natürlich nicht, was sie tun sollen. Vielmehr lege ich den Finger in die Wunde und versuche den jeweiligen Entscheidungsträgern Input und Argumentationsgrundlagen zu liefern. Und manchmal muss man dafür eben laut genug ‚brüllen‘, um gehört zu werden.“

Originalfoto: Bernhard Ludewig