Für die Kinder, die auf den Straßen von Cagayan de Oro, einer der größten Städte der Philippinen, leben, ist das Leben nicht einfach. Nicht wenige von ihnen landen in der Drogenabhängigkeit oder Prostitution. Hannah Saley und Jhon Mateo Magkilat, zwei Studierende der Willy Brandt School of Public Policy an der Uni Erfurt wollten dagegen etwas unternehmen. Und gründeten 2015 das Projekt „Reading on Wheels“. Unterstützer fanden sie im Ateneo Diplomatic Corps und in Studierenden des International Studies Department der Xavier Universität, an der Jhon zuvor studiert hatte. Und auch das Preisgeld aus dem Commitment Award, den sie 2015 für ihre Projektidee gewannen, half dabei, sie Wirklichkeit werden zu lassen.
Die Idee ist im Grunde denkbar einfach – nämlich, einen Wagen, gefüllt mit Büchern und Schreibmaterial auf die Straße zu bringen, der die Straßenkinder zum Lesen und Lernen motivieren und sie inspirieren soll, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. „Zugleich wollen wir mit dem Projekt nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Werte wie Respekt und Integrität“, erklärt Hannah Saley. Dafür war es aber zunächst wichtig, das Vertrauen der Straßenkinder zu gewinnen. Gelungen ist dies beispielsweise dadurch, dass eine Reihe von Freiwilligen, Studierende der Xavier Universität, den Kindern erst einmal nur vorgelesen haben. Mit durchschlagender Wirkung – das Projekt ist inzwischen deutlich gewachsen und wurde bereits in weiteren Gemeinden in der Region angestoßen.
„Darüber bin ich sehr froh“, sagt Jhon, der selbst aus Cagayan de Oro kommt und die Not vor Ort mit eigenen Augen gesehen hat. „Ich habe beobachtet, wie die Zahl der Straßenkinder stetig zunahm. Die Kinder verbrachten den ganzen Tag damit, zu betteln oder sich mit kleinen Gaunereien oder Drogen über Wasser zu halten. Aber diese Kinder könnten auch die zukünftigen Lehrer, Ingenieure, Ärzte, Anwälte oder Geschäftsleute der Welt sein, wenn sie nur die Chance hätten, zu lernen und ausgebildet zu werden.“ Und so nahmen Hannah und Jhon Kontakt zu den Studierenden der Xavier Universität auf, um sie als Freiwillige für ihr Projekt vor Ort zu gewinnen. Sie ließen sich nicht lange bitten, sodass die Erwartungen an „Reading on Wheels“ sogar weit übertroffen werden konnten.
„Im Grunde haben wir Hilfe zur Selbsthilfe gegeben und gezeigt, dass man selbst etwas bewegen kann.“
Hannah Saley
Seit 2015 läuft die Initiative und wächst beständig. Inzwischen haben sich weitere Geldgeber wie z.B. die US-Botschaft in Manila, der Rotary Club und das Roten Kreuz gefunden, durch die das Projekt auch andere Regionen und die Küstengebiete erreichen konnte. „Wir haben damals einen Stein ins Rollen gebracht, der nach wie vor rollt“, sagt Hannah. „Im Grunde haben wir Hilfe zur Selbsthilfe gegeben und gezeigt, dass man selbst etwas bewegen kann. Das macht uns zufrieden und natürlich auch ein bisschen stolz. Es ist ermutigend, zu wissen, dass wir mit dem Projekt einen kleinen Teil dazu beigetragen haben, das Leben der Kinder zu verbessern und ihnen Chancen zu eröffnen. Und auch für mich selbst ist unsere Initiative eine Bereicherung. Denn als wir mit der ganzen Sache angefangen haben, hatte ich nicht viel Erfahrung mit Projektsteuerung. Ich habe durch die Zusammenarbeit mit Jhon und unseren lokalen Partnern so viel gelernt. Ich würde sogar sagen, das ist eine Erfahrung, die einen wesentlichen Einfluss darauf hatte, wer ich heute bin.“ Jhon pflichtet ihr bei: „Es bereitet uns so viel Freude, zu sehen, dass unsere Idee Wirklichkeit geworden ist und immer weiter wächst. Das motiviert mich, noch mehr zu tun und vielleicht eines Tages meine eigene Stiftung oder gemeinnützige Organisation zu gründen.“ Und so hat der heute 29-Jährige auch schon neue Pläne: „Im Frühjahr erhielten wir die Nachricht, dass unser Projekt künftig auch vom US-Außenministerium und Gawad Kalinga, einer Bewegung zur Armutsbekämpfung auf den Philippinen, unterstützt wird, damit es weiter ausgebaut werden kann. Dadurch haben wir nun die Möglichkeit, ein Fahrzeug anzuschaffen, mit dem wir auch weiter entfernte Gemeinden und benachbarte Provinzen erreichen können. Darüber hinaus konnten wir ein Stück Land bekommen, auf dem Gemeinschaftshäuser gebaut werden und eine Art Drehkreuz für „Reading on Wheels“ errichtet werden könnte.“
Ob es auch Rückschläge gegeben hat, fragen wir Jhon und Hannah. „Ja natürlich gab es die. Zum Beispiel war es nicht leicht, dass Jhon in Deutschland lebt und ich in Kanada war. Ein Projekt auf diese Distanz zu managen, war schon eine Herausforderung. Die wir aber dank der großen Unterstützung der Studierenden vor Ort bewältigen konnten. Aber wir haben auch erlebt, dass Straßenkinder schlicht Angst davor hatten, unser Angebot wahrzunehmen, weil sie fürchteten, von der Kommunalverwaltung ‚eingesammelt‘ und in Fürsorgeeinrichtungen untergebracht zu werden. Von dort laufen aber viele der Kinder immer wieder weg, weil sie sich dort nicht wohlfühlen. Und so mussten wir zunächst eine Vereinbarung mit der lokalen Verwaltung treffen. Aber zum Glück ist uns auch das gelungen.“
„Mich hat immer wieder beeindruckt, dass die Kinder trotz ihrer schwierigen Lebenssituation so positiv in den Tag gehen.“
Jhon Mateo Magkilat
Wenn Jhon und Hannah über die vergangenen vier Jahre nachdenken, dann bleibt ihnen – so sagen sie – vor allem das Lachen der Kinder in Erinnerung, mit denen sie gespielt, gelesen und gelernt haben. Ihre Geschichten, ihre Träume. „‘Reading on Wheels‘ ist eine Brücke, die neue Beziehungen zwischen Studierenden und Straßenkindern geschaffen hat, zwischen zwei völlig entgegengesetzten sozialen Schichten, die plötzlich zu einer Gemeinschaft wurden“, sagt die 28-jährige Hannah. Und Jhon ergänzt: „Mich hat immer wieder beeindruckt, dass die Kinder trotz ihrer schwierigen Lebenssituation so positiv in den Tag gehen. In der Hoffnung, dass sie sich eines Tages aus ihrer Armut und Not befreien und ein gutes Leben führen werden. Da wurde mir klar, wie gesegnet und glücklich ich eigentlich selbst bin.“ Und auch Hannah hat das Projekt stark beeinflusst: „Zu sehen, wie sich eine Gemeinschaft durch eine solche Initiative im Positiven verändern kann, macht mich in gewisser Weise demütig. Ich habe erkannt, dass ich selbst dazu in der Lage bin, das Leben anderer zu verbessern, Haltung zu zeigen und Gutes anzustoßen. Mein Studium an der Brandt School hat mich auf diesen Weg geführt und dafür bin ich sehr dankbar.“