Es ist der Alptraum schlechthin: Wenn es an der Haustür klingelt und man unerwartet der Polizei öffnet. Wenn sie die Nachricht überbringen, dass es einen Unfall gegeben hat, dass es Tote gab. Wenn sich die Erkenntnis, dass ein geliebter Mensch von jetzt auf gleich einfach nicht mehr da ist, durchs Hirn und ein lodernder Schmerz durchs Herz frisst. Wer bietet den Empfängern einer solchen Botschaft in diesen Momenten Halt? Wer ist da in den ersten Stunden der Not? Die Polizei formal nicht. „Mit der Überbringung der Todesnachricht ist der Job der Beamten beendet“, erklärt Cornelia Aßmann. „Danach übernehmen wir.“

Wir, das sind ehrenamtliche Männer und Frauen der Notfallseelsorge. Sie begleiten die Polizistinnen und Polizisten und überbringen gemeinsam mit ihnen die Nachricht, die niemand jemals bekommen möchte. Sie bieten den Halt, den die Staatsdiener oft nicht leisten können. Weil es nicht deren Aufgabe ist. Weil sie im Dienst unter Zeitdruck stehen. Und weil sie dafür nicht ausgebildet sind. „Während der Polizeiausbildung gibt es gerade einmal ein oder zwei Stunden, in denen der Umgang mit Angehörigen thematisiert wird. Mehr nicht“, sagt die Seelsorgerin. Und sie weiß auch, dass das viel zu wenig ist, um den oft kaum beherrschbaren menschlichen Gefühlen nach einem Verlust gerecht zu werden.

„Wir sind ein Pflaster. Wir sind das, was man aufbringt,
wenn die Wunde noch blutet.“

Cornelia Aßmann

Aßmann, die hauptberuflich als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Erfurt tätig ist, will in dieses Gefühlschaos und die seismografische Erschütterung, die es für das Leben der Betroffenen bedeutet, hineinwirken. Stabilisierend. Lindernd. Manchmal mit Gesprächen. Manchmal aber auch einfach nur, indem sie sich schweigend zu einem Menschen setzt, der gerade den letzten Angehörigen auf dieser Welt verloren hat. „Wir sind ein Pflaster“, versinnbildlicht sie die Arbeit der Notfallseelsorge. „Wir sind das, was man aufbringt, wenn die Wunde frisch geschlagen ist und noch blutet.“

Oft geht es in ihrer Arbeit auch darum, Hilfestellung in formalen Angelegenheiten zu bieten: erste Vorbereitungen für eine Beerdigung treffen etwa oder aber auch wichtige Fragen mit den Behörden klären – all das also, wofür vielen Menschen nach Erhalt einer überraschenden Todesnachricht schlichtweg die Kraft fehlt. Für die langfristige Nachbetreuung, die Bewältigung von Trauer und die Reintegration der Hinterbliebenen in den Lebensalltag, gibt es andere Angebote. Doch dazu eben diese wahrzunehmen, müssen die Menschen oft erst ermutigt werden. Auch dadurch, dass sie in den ersten Stunden der akuten Not erkennen, dass sie nicht allein sind. Dass es Hilfe gibt, wenn sie Hilfe brauchen.

„Dieser Wunsch nach Unsterblichkeit der Seele ist immer da. Immer.“

Cornelia Aßmann

Seit 2015 arbeitet Cornelia Aßmann als Freiwillige in der Notfallseelsorge – zweimal im Monat mit Rufbereitschaft für jeweils 24 Stunden. Derzeit sogar noch mehr, denn das Team aus Notfallseelsorgerinnen und -seelsorgern ist chronisch unterbesetzt. An Statur ist die Wissenschaftlerin eher klein, eher zart. Ihr Wesen ist aufgeschlossen und freundlich, aber auch durchsetzt von einer ruhigen und bedächtigen Ausstrahlung. Man kann sich gut vorstellen, sich ihr zu öffnen, sie teilhaben zu lassen an Gedanken und Emotionen, selbst an den dunkelsten.

Und doch fragt man sich, woher diese zierliche Person die Kraft nimmt, um sich dieser Aufgabe zu stellen, die auch immer einen emotionalen Verschleiß am eigenen Leib bedeutet. „Ich habe eine gute Eismaschine“, erklärt sie lachend. Eis als Balsam für die Seele. Auch die eigene. Mit mehr Ernsthaftigkeit in der Stimme fährt sie fort: „Und natürlich finde ich Halt in meinem Glauben.“

Der Glaube ist der promovierten Theologin wichtig. Er ist Antrieb und Ventil zugleich. Außerdem ist Cornelia Aßmann als Ehrenamtliche für die Caritas tätig, einen kirchlichen Träger. Doch obwohl das Konzept der Seelsorge christliche Wurzeln hat, wird sie heute weder exklusiv von Christinnen und Christen angeboten, noch ausschließlich von ihnen in Anspruch genommen. „Seelsorgerische Dienste stehen allen offen, die sie brauchen“, erläutert die Katholikin.

Mit ihrer Arbeit will Cornelia Aßmann „der Seele einen Schutzraum bieten“, sagt sie. Die Vorstellung, dass es überhaupt so etwas wie eine unsterbliche Seele gibt, ist dabei ein wiederkehrendes Element in all ihren Einsätzen. Wiederkehrend selbst bei Menschen, die sich zu keinem Glauben und damit zu keiner religiös gestützten Vorstellung von einer Seele bekennen. In den neuen Bundesländern ist das mit 74 Prozent immerhin die große Mehrheit. Auch die Mehrheit der Menschen, mit denen die Seelsorgerin in Berührung kommt, gehören keiner religiösen Gemeinschaft an.

Und trotzdem: „Ich habe schon mit Atheisten gearbeitet, die darum baten, das Fenster zu öffnen, damit die Seele des Verstorbenen nach draußen gelangen kann“, erinnert sich die Seelsorgerin. Sie erinnert sich an Witwen, die fragten ob ihr verstorbener Mann sie noch hören könne. An Kinder, die davon überzeugt waren, dass sie nun einen Teil der Seele des verunglückten Vaters in sich trügen. „Dieser Wunsch nach Unsterblichkeit der Seele ist immer da“, sagt sie. „Immer.“

Mit ihrem Ehrenamt bewegt sich Cornelia Aßmann damit entlang der „großen Fragen“ des Lebens. Antworten auf ähnlich große Fragen sucht sie derweil auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Theologie und Exegese des Alten Testamentes. Dort arbeitet sie derzeit an ihrer Habilitation. Ihre ehrenamtliche Tätigkeit ist dabei ein ganz bewusster Ausgleich für die akademische Arbeit: „Ich arbeite den ganzen Tag mit Büchern“, beschreibt die Wissenschaftlerin ihre berufliche Praxis. „Mein Ehrenamt bietet mir zum Ausgleich die Möglichkeit, mit Menschen und deren akuten Bedürfnissen in Austausch zu kommen.“ Zwischen den großen Fragen der Theologie und einem Diensthandy mit Weiterleitung zur Rettungsleitstelle, leistet Cornelia Aßmann dabei selbst Großes, indem sie im Kleinen wirkt: an der menschlichen Seele in ihren wohl verletzlichsten Momenten.