Zum Wissenschaftsjahr 2018 hat die Universität Erfurt eine Textreihe über die „Arbeitswelten der Zukunft“ veröffentlicht. In einem der Beiträge fragte Wilhelm Schmid, Lebenskunstforscher und ehemalig Außerplanmäßiger Professor am Seminar für Philosophie der Universität Erfurt, welche Lebensbereiche von Arbeit geprägt werden und wie Arbeit und Lebenskunst zusammenhängen. Und weil er so wunderbar zum Thema Selbstwirksamkeit passt, sei an dieser Stelle noch einmal an ihn erinnert…
Arbeit ist die Grundlage für die Produktion materieller Ressourcen, mit denen der Lebensunterhalt bestritten werden kann. So sehen das heute jedenfalls viele. Arbeit ist dann faktisch: Eine Stelle zu haben und eine Aufgabe gemäß Stellenbeschreibung zu erfüllen, um vom Ertrag leben zu können. Doch das ist nur das in der Industriegesellschaft entstandene moderne Verständnis des Begriffs. Ich will hier versuchsweise den Begriff anders definieren: Arbeit ist all das, was ich in Bezug auf mich und mein Leben leiste, um ein schönes und bejahenswertes Leben führen zu können. Jede Aufmerksamkeit und jeder Aufwand an Kraft hierfür kann Arbeit sein, körperlich, seelisch, geistig, sozial, ökologisch.
Damit kommen nun ganz andere Arbeiten in den Blick. Vorweg 1.: die Arbeit an sich selbst, die Pflege der Selbstbeziehung als Voraussetzung für die Beziehung zu Anderen, beginnend mit einer Selbstaufmerksamkeit, um die eigenen Vorlieben und Abneigungen, Stärken und Schwächen besser kennen zu lernen. Auf dieser Basis wird die Selbstdefinition möglich, die dem Selbst gewollte Konturen gibt, mit einer Festlegung seiner wichtigsten Beziehungen, Erfahrungen, Ideen, Werte, Gewohnheiten und selbst Verletzungen, schließlich des Schönen, Bejahenswerten, an dem das Leben immer wieder orientiert werden kann, um daraus neue Kraft zu schöpfen. Diese Arbeit ist dem Selbst vollkommen zu Eigen, ihr kann es sich ganz und gar widmen, irgendwelche Arbeitslosigkeit ist hier nicht zu erwarten und es ist diese Arbeit, die die Voraussetzung für alle weiteren Arbeiten darstellt und sie durchdringt.
Etwa 2.: die Arbeit an Freundschaft, die moderne Menschen bewusst zu leisten haben, um enge Bindungen zu anderen zu gründen und zu pflegen, Bestandteil einer Formgebung der Freiheit. In modernen Kulturen ist eine Arbeit daraus geworden, die ganz unverzichtbar ist: Mit dem wahren Freund können die Gespräche geführt werden, auf die so viel im Leben ankommt. Es sind die tieferen Gespräche, in denen es darum geht, das Leben zu deuten und zu interpretieren. Kleine und große Lebensfragen sind zu besprechen, Geschehnisse, Begegnungen und Erfahrungen hin- und herzuwenden und Schlüsse daraus zu ziehen: Welche Erfahrungen sind wie einzuschätzen? Welche verborgenen Zusammenhänge lassen sich bei einer Sache ausfindig machen? Welche Argumente können für und gegen eine Wahl aufgeboten werden? Welchen Werten soll welche Bedeutung beigemessen werden? Was ist wirklich wichtig im Leben? Was ist schön, was bedeutet Glück, was macht Sinn, was nicht?
Ferner 3.: die Familienarbeit, an der kein Weg vorbeiführt, jedenfalls dann, wenn es Familie überhaupt noch geben soll. Sie existiert nicht mehr aufgrund religiöser, traditioneller und konventioneller Vorgaben, sondern nur noch aufgrund einer freien Wahl der Beteiligten, für die gute Gründe sprechen können: Geborgenheit und Vertrautheit, die Erfahrung von Liebe und die Weitergabe von Leben sind am ehesten im Rahmen einer Familie zu verwirklichen. Familienarbeit heißt, die engsten Beziehungen zu pflegen, das immer schwierige Zusammenleben zu koordinieren, den gemeinsamen Rhythmus fürs Leben zu finden, Kinder zu erziehen, den familiären Alltag zu bewältigen, die lästigen Hausarbeiten zu erledigen. Männer sind nicht immer vertraut damit, dass die Familienarbeit nach einer anderen Logik funktioniert als die Erwerbsarbeit. Aber die Mühe, die sie macht, wird reich entlohnt: Menschen, die in familiären Bindungen leben, stellen sich in aller Regel die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht mehr. Das Leben in Familie ist der Sinn, nicht der einzig mögliche, aber einer, der nur mit großer Mühe anderweitig zu ersetzen ist.
Über die Familie hinaus ist jedoch die gesamte Gesellschaft von der modernen Auflösung von Beziehungen bedroht. Umso größere Bedeutung gewinnt daher 4.: die Bürgerarbeit. Sich selbst als Bürger wahrzunehmen, der an der Integrität der Gesellschaft arbeiten kann, ist ein Wesenszug der Demokratie. Die Arbeit beginnt bereits mit der Gestaltung der Begegnung mit anderen im Alltag, ein scheinbar banaler Aspekt der Bürgerarbeit: Wie wirkt dabei das Selbst auf andere? Anspruchsvoller ist die Arbeit des sozialen Engagements, um das sich lange vorwiegend Frauen bemühten, um die Dienste zu leisten und die Selbsthilfe zu organisieren, die weder Sache des Staates noch der Privatwirtschaft sein kann, und sei es nur im Rahmen zeitlich begrenzter Einsätze, wie sie von Freiwilligenorganisationen vermittelt werden. Gerade diese Arbeit, die schlecht oder überhaupt nicht entlohnt wird, vermittelt Lebenssinn und Sinn der Arbeit, wohl weil die Freiheit der Arbeit hier am stärksten erfahrbar ist.
Ins Blickfeld rückt 5.: auch die Muße als Arbeit, wenngleich der bloße Begriff schon paradox erscheinen mag. Sich wenigstens versuchsweise auf ein gelegentliches Lassen einzulassen, dient nicht etwa dazu, den Aktivismus aufzulösen, sondern ihn auszubalancieren. Die Muße ist, ergänzend zum tätigen Leben (vita activa), die geistige Lebensweise (vita contemplativa), in der das Nachdenken, Andersdenken, Überdenken, Neudenken sich entfalten kann, nicht zielorientiert, nicht nützlich im unmittelbaren Sinne und gerade aus diesem Grund eine unerschöpfliche Ressource an Kreativität, die der immer neuen Orientierung der Arbeit und des Lebens dient, um neue Perspektiven zu gewinnen.
Gerade in dieser Zeit geht es 6.: um die Arbeit am Sinn, zunächst bezogen auf die Arbeit selbst. Es kommt darauf an, Zusammenhänge der eigenen Arbeit, jeder Arbeit, in größerem Rahmen zu sehen und danach zu fragen, ob und gegebenenfalls welche Bedeutsamkeit ihr zukommt. In Zeiten der Muße, „Auszeiten“, sabbaticals, lässt sich dies besser erkunden als inmitten der alltäglichen Anforderungen. Infrage stehen in erster Linie teleologische Zusammenhänge des Wofür, um auf ein Ziel, einen Zweck (griechisch telos) hin arbeiten zu können, etwa um Verhältnisse zu verändern und zu verbessern, sich und anderen zu helfen. Viele sehnen sich danach, „gebraucht zu werden“, und leiden darunter, dass „jeder ersetzbar ist“, vor allem durch Maschinen. Zu ersetzen wäre jedoch das heteronome Wofür durch ein autonomes, um Ziel und Zweck der Arbeit nicht von anderen sich vorgeben zu lassen, sondern selbst darüber zu entscheiden, wofür zu arbeiten ist.
Eingebettet in die verschiedenen Aspekte von Arbeit erscheint nun 7.: die Erwerbsarbeit neu. Nicht, dass sie unbedeutend geworden wäre, aber es ist von entscheidender Bedeutung, dass sie ihren Platz im Gesamtrahmen aller Arbeiten findet, um geleistet werden zu können. Diejenigen lassen sich auf ein trügerisches Glück ein, die sich der Erwerbsarbeit allein anvertrauen, denn ihre Ressourcen erschöpfen sich im Burnout des Workaholic. Die genannten anderen Arbeiten ermöglichen erst die Einbettung der Erwerbsarbeit in ein Umfeld, in dem sie gut bewältigt werden kann. Dass beim Ausbleiben dieser Arbeit alle anderen erhalten bleiben, mag als schwacher Trost erscheinen, kann aber lebensrettend sein.
Weitere Informationen:
Wilhelm Schmid, geboren 1953 studierte Philosophie und Geschichte in Berlin, Paris und Tübingen und lehrte bis 2018 Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. www.lebenskunstphilosophie.de