An einer Hochschule ist man das Zuhören gewöhnt. Trotzdem muss man schon sehr genau lauschen, wenn Medine Yilmaz erzählt. Denn die junge Frau spricht schnell und ist es gewöhnt, möglichst viel Inhalt in möglichst kurzer Zeit zu transportieren. Kein Wunder, denn als Konferenzdolmetscherin ist ihre Fähigkeit zum flinken und agilen kommunizieren ihr Kapital. Doch es lohnt sich, nahe bei ihren Worten zu bleiben, denn die Absolventin der Staatswissenschaften an der Universität Erfurt hat allerhand zu erzählen. Nicht nur von ihrem Beruf, der sie regelmäßig in die Welt verschlägt. Auch von ihrem politischen wie gesellschaftlichen Engagement, mit dem sie sich für den Dialog mit Geflüchteten sowie für die Rechte von Frauen im Nahen Osten einsetzt.
Wo fängt man also an zu erzählen, wenn man Yilmaz‘ flottem Takt sowohl in der Sprache als auch im Leben gerecht werden will? Am besten am Anfang: Medine Yilmaz wird 1982 in Berlin als Tochter kurdischer Eltern geboren. In der Hauptstadt macht sie zunächst eine Ausbildung zur Bürokauffrau, danach eine Dolmetscherlehre. „Als es sprachlich dann ‚Klick‘ gemacht hat, wollte ich mehr erreichen im Leben.“ Zu diesem Zweck holt sie erst das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach. Danach kommt sie 2011 nach Erfurt, um hier das Studium der Staatswissenschaften aufzunehmen. Ihr Ziel: sich wissenschaftliches Hintergrundwissen aneignen für ihre Tätigkeit als türkisch-deutsche Dolmetscherin, in der Yilmaz auch studienbegleitend tätig ist.
„Ich fand Erfurt sehr schön“, erinnert sie sich an ihre Anfänge in der Thüringer Landeshauptstadt. „Aber Erfurt war nicht bunt. Erfurt war nicht vielfältig.“ Diese Leerstelle versucht die Kurdin zum einen durch politisches Engagement zu schließen. 2013 tritt sie dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei. Von 2014 bis 2016 wird sie sogar Kreisvorsitzende in Erfurt. Doch als Vorsitzende erschöpft sich ihre Arbeit vorwiegend in bürokratischen Verwaltungsaufgaben. Am politischen Diskurs hingegen hat Yilmaz wenig Anteil. Um das zu ändern, wird sie zusätzlich ‚auf eigene Faust aktiv‘: Ehrenamtlich zieht sie durch sämtliche Thüringer Landkreise sowie kreisfreien Städte und bietet in Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen Vorträge zum Thema Islam an.
„Vielen Menschen fehlen der Kontakt und das Hintergrundwissen. Viele können gar nicht die Frage stellen, die sie gern stellen wollen. Deswegen wollte ich diese Möglichkeit geben,diesen Raum schaffen.“
Medine Yilmaz
„Zu den Veranstaltungen kamen kritische Leute, aber natürlich auch interessierte“, erinnert sie sich. „Das war für mich ein spannender Austausch, weil man dabei nicht nur über den Islam spricht, sondern über Migration und kulturelle Vielfalt insgesamt. Aber auch, weil man vielleicht überhaupt eine erste Begegnung schafft mit Menschen, die noch nie die Möglichkeit hatten, einen Menschen mit Migrationshintergrund zu sprechen.“ Eben jene Begegnungen sind es, die für Yilmaz ein so großes Gewicht haben, denn: „Vielen Menschen fehlen der Kontakt und das Hintergrundwissen. Viele können gar nicht die Frage stellen, die sie gern stellen wollen. Deswegen wollte ich diese Möglichkeit geben, diesen Raum schaffen.“
Raum für ihre Arbeit findet die Alumna der Uni Erfurt von 2016 bis 2018 auch im Thüringer Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz. Dort wirkt sie als Ehrenamtskoordinatorin und entwickelt mit Kolleginnen und Kollegen das Ehrenamtsbuch „Aktiv für Geflüchtete“, ein Leitfaden für ehrenamtliche Arbeit im Kontext der Migrationsbewegung. Dabei zehrt die gebürtige Berlinerin auch von ihren persönlichen Netzwerken: „Ich habe über ein sehr großes Netzwerk verfügt – schon vorher – und habe versucht, alle Anlaufstellen Thüringens zu komprimieren. Das war mein Schwerpunkt in diesem Buch“, resümiert sie. Aber auch über den Leitfaden hinaus macht Yilmaz ihre Netzwerke für geflüchtete Menschen im Freistaat nutzbar: Sie versucht Ärzte mit Migrations- und insbesondere Fluchthintergrund zu vernetzen, vermittelt Praktika beim Mitteldeutschen Rundfunk, gibt Einblicke in Berufswelten und hofft, damit wirtschaftlich wie sozial langfristige Perspektiven im neuen Heimatland zu eröffnen.
Dass sie jedoch nur zeitweise im Ministerium bleiben würde, stand für Medine Yilmaz von vornherein fest. Von ihrem Beruf als Konferenzdolmetscherin, in dem heute sie vorrangig im Auftrag der Bundesregierung arbeitet, wollte sie nur eine kurze Auszeit nehmen, „denn beides zusammen wäre zu viel gewesen.“ Doch als 2015 die Migrationswelle über Deutschland zusammenbrach, schätzten Expertinnen und Experten, dass es mindesten zwei oder drei Jahre dauern würde, bis die Folgen des gesellschaftlichen Wandels ihre volle Wirkung entfalteten. „In dieser schwierigen Zeit, in der sich Thüringen und Deutschland zu jener Zeit befand, wollte ich das meinige geben.“ Den Umgang des Freistaates mit der globalen Fluchtbewegung sieht sie indes kritisch: „Ich finde es sehr gut, dass wir eine rot-rot-grüne Regierung hatten, als die Geflüchteten gekommen sind“, urteilt sie. Trotzdem kritisiert sie, dass Thüringen eine tatsächliche Integration der Geflüchteten versäumt habe – auch, indem z. B. Posten in den Ministerien, der Verwaltung, dem Job-Center oder sogar in der Ausländerbehörde maximal mit „Alibi-Migranten“ besetzt seien.
Dass ein tatsächlicher interkultureller Austausch fehlt, war auch bei den jüngsten Thüringer Landtagswahlen zu erkennen: 23,4 % für die AfD. „Ich habe zum ersten Mal nach einem Wahlergebnis geweint“, erzählt Yilmaz offen. „Und ich hatte Angst.“ Ein Gefühl, dass ihr nicht fremd ist. „Man lebt ständig mit der Angst, was wird morgen passieren und dann kommt so eine Zahl – das ist wie ein Schlag ins Gesicht.“ Doch dass Yilmaz durch und durch Optimistin ist, lässt sich auch daran erkennen, dass sie den 23,4 % tatsächlich etwas Gutes abgewinnen kann: „Mich bewegt es gleichzeitig auch dazu, noch mehr zu machen. Mehr sichtbar zu sein. Mehr über diese Themen zu sprechen. Ich überlege auch, wie ich das meinige tun kann, um AfD-Wähler zu erreichen. Manchmal schaue ich mich auch um und manchmal hasse ich mich dafür, wenn ich mir denke: Wählt er oder sie die AfD? Versuchst du jetzt einen Dialog? Man wird dann auch ein bisschen ‚gaga‘ und paranoid. Aber ich würde wirklich gern über die gemeinsamen Ängste sprechen.“
„Ich musste mir meine eigene Emanzipation innerhalb der Familie hart erkämpfen. Und ich möchte viele Frauen dazu motivieren, das auch zu tun.“
MEdine Yilmaz
Doch ihre Zeit im Ministerium hatte Yilmaz auch noch etwas Anderes gezeigt: „Dort im Ministerium habe ich festgestellt: Die Menschen, die hier sind – denen geht es gut! Was ist aber mit den vielen Menschen, insbesondere den Frauen, die es nicht hierher schaffen?“ Entsprechend beginnt die Deutsch-Türkin darüber nachzusinnen, wie sie nicht nur lokal begrenzt in Erfurt wirken kann. Sie will auch international „Empowerment“ betreiben, das bedeutet: Menschen die Macht geben, über sich und ihr Leben frei zu bestimmen. Die Selbstermächtigung von Frauen ist ihr dabei ein ganz besonderes Anliegen – auch weil die junge Frau, die mit 17 Jahren zunächst eine arrangierte Ehe einging, sich ihre eigene Emanzipation „innerhalb der Familie hart erkämpfen musste. Und ich möchte viele Frauen dazu motivieren, das auch zu tun“.
Ihre kurdischen Wurzeln sensibilisieren sie dabei insbesondere für die Nöte im Nahen Osten: „Der nahe Osten brennt!“, sagt sie. „Er brennt schon seit Jahrzehnten und er wird weitere Jahrzehnte brennen.“ Mit ihrem Verein „Frauen für den Nahen Osten“, den Yilmaz 2018 gründet, will sie versuchen, eben diesen Brand „schübchenweise zu löschen.“ Sie wolle für die Menschen vor Ort „einen kleinen Garten schaffen“, erklärt sie die Ziele des Vereins. Die erste Frau, der das Projekt einen solchen Garten schuf, war Sawra: Bei einem Bombardement verlor Sawra 2017 in Syrien ihren Mann. Zusätzlich geriet ihr Bruder in Gefangenschaft der Terrormiliz IS. In einer Kultur, in der Frauen zumeist finanziell abhängig von männlichen Familienmitgliedern sind, folgt daraus für die Syrerin eine existenzbedrohende Notlage. Gemeinsam mit ihren zwei Schwestern und ihrem zwölfjährigen Neffen flieht die Witwe in die Türkei, wo sie als Schneiderin für sich und ihre Angehörigen selbstständig sorgen will. Dort fehlt es ihr allerdings an Materialien und Werkzeugen. Dank Spendengeldern kann der „Verein für Frauen für den Nahen Osten e.V.“, der über eine Partnerorganisation von Sawras Notlage erfährt, sie mit den notwendigen Mitteln ausstatten, um eine kleine Schneiderei an der Grenze zu Syrien aufzubauen. „Sawra sagte zu uns: ‚Dank Euch habe ich wieder das Atmen gelernt.‘“, erinnert sich Yilmaz an dieses erste Hilfsprojekt. „Es sind genau diese Momente, die mir die Freude und die Motivation geben, immer weiterzumachen.“
„Gerade in Zeiten, in denen die AfD wächst, müssen die Wissenschaftler sichtbarer werden, denn wenn der Faschismus kommt, wird die Wissenschaft die erste sein, die geht.“
Medine Yilmaz
Doch um etwas zu bewegen in der Welt, müsse man gar nicht so weit in selbigen hinausgehen, findet die Vereinsvorsitzende. Stattdessen genüge es, im Kleinen anfangen: zum Beispiel hier in Erfurt, hier an der Universität. „Die Uni kann sehr viel dazu beitragen und muss viel tun“, befindet sie über die gesellschaftliche Verantwortung der Hochschule. „Ich finde, die Wissenschaftler müssen aus ihrem Kämmerchen herauskommen. Gerade in Zeiten, in denen die AfD wächst, müssen die Wissenschaftler sichtbarer werden, denn wenn der Faschismus kommt, wird die Wissenschaft die erste sein, die geht. Wissenschaftler müssen deshalb in den Landkreisen und in den Regionen sein, wo die Menschen sich von der AfD mitgenommen fühlen. Sie müssen Denkräume schaffen – nicht nur hier in der Uni, sondern bei den Menschen vor Ort. Sie müssen überlegen, wie sie anhand von Projekten und kleinen Initiativen Menschen erreichen, die im Moment dem Populismus folgen. Denn wissen und forschen sind wichtig – aber sein Wissen zu teilen, ist ebenso wichtig!“
Und auch, wie ein solch kleines Projekt ‚zum Teilen‘ aussehen könnte, weiß Yilmaz schon ganz genau: „Ich wünschte mir, dass die Uni Leistungspunkte für soziales Engagement vergeben würde“, sagt sie und ausnahmsweise wird ihre sonst so feste Stimme ein bisschen leiser, während sich Medine Yilmaz vorstellt, was es bedeuten könnte, wenn jeder einen kleinen Anteil an einer besseren und vielfältigeren Welt hätte.