Weltbeweger – Weltbeweger https://weltbeweger.uni-erfurt.de Eine Kampagne der Universität Erfurt Wed, 18 Dec 2019 12:39:55 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.4 https://weltbeweger.uni-erfurt.de/wp-content/uploads/2019/08/3217Logo_Uni_hellgrau.png Weltbeweger – Weltbeweger https://weltbeweger.uni-erfurt.de 32 32 „Ich würde zu gern über die gemeinsamen Ängste sprechen!“ Medine Yilmaz engagiert sich für kulturelle Vielfalt und die Gleichberechtigung von Frauen https://weltbeweger.uni-erfurt.de/2019/12/11/weltbewerger-medine-yilmaz/ Wed, 11 Dec 2019 10:24:18 +0000 https://weltbeweger.uni-erfurt.de/?p=1069 An einer Hochschule ist man das Zuhören gewöhnt. Trotzdem muss man schon sehr genau lauschen, wenn Medine Yilmaz erzählt. Denn die junge Frau spricht schnell und ist es gewöhnt, möglichst viel Inhalt in möglichst kurzer Zeit zu transportieren. Kein Wunder,... Weiterlesen →

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An einer Hochschule ist man das Zuhören gewöhnt. Trotzdem muss man schon sehr genau lauschen, wenn Medine Yilmaz erzählt. Denn die junge Frau spricht schnell und ist es gewöhnt, möglichst viel Inhalt in möglichst kurzer Zeit zu transportieren. Kein Wunder, denn als Konferenzdolmetscherin ist ihre Fähigkeit zum flinken und agilen kommunizieren ihr Kapital. Doch es lohnt sich, nahe bei ihren Worten zu bleiben, denn die Absolventin der Staatswissenschaften an der Universität Erfurt hat allerhand zu erzählen. Nicht nur von ihrem Beruf, der sie regelmäßig in die Welt verschlägt. Auch von ihrem politischen wie gesellschaftlichen Engagement, mit dem sie sich für den Dialog mit Geflüchteten sowie für die Rechte von Frauen im Nahen Osten einsetzt.

Wo fängt man also an zu erzählen, wenn man Yilmaz‘ flottem Takt sowohl in der Sprache als auch im Leben gerecht werden will? Am besten am Anfang: Medine Yilmaz wird 1982 in Berlin als Tochter kurdischer Eltern geboren. In der Hauptstadt macht sie zunächst eine Ausbildung zur Bürokauffrau, danach eine Dolmetscherlehre. „Als es sprachlich dann ‚Klick‘ gemacht hat, wollte ich mehr erreichen im Leben.“ Zu diesem Zweck holt sie erst das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach. Danach kommt sie 2011 nach Erfurt, um hier das Studium der Staatswissenschaften aufzunehmen. Ihr Ziel: sich wissenschaftliches Hintergrundwissen aneignen für ihre Tätigkeit als türkisch-deutsche Dolmetscherin, in der Yilmaz auch studienbegleitend tätig ist.

„Ich fand Erfurt sehr schön“, erinnert sie sich an ihre Anfänge in der Thüringer Landeshauptstadt. „Aber Erfurt war nicht bunt. Erfurt war nicht vielfältig.“ Diese Leerstelle versucht die Kurdin zum einen durch politisches Engagement zu schließen. 2013 tritt sie dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei. Von 2014 bis 2016 wird sie sogar Kreisvorsitzende in Erfurt. Doch als Vorsitzende erschöpft sich ihre Arbeit vorwiegend in bürokratischen Verwaltungsaufgaben. Am politischen Diskurs hingegen hat Yilmaz wenig Anteil. Um das zu ändern, wird sie zusätzlich ‚auf eigene Faust aktiv‘: Ehrenamtlich zieht sie durch sämtliche Thüringer Landkreise sowie kreisfreien Städte und bietet in Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen Vorträge zum Thema Islam an.

„Vielen Menschen fehlen der Kontakt und das Hintergrundwissen. Viele können gar nicht die Frage stellen, die sie gern stellen wollen. Deswegen wollte ich diese Möglichkeit geben,diesen Raum schaffen.“

Medine Yilmaz

„Zu den Veranstaltungen kamen kritische Leute, aber natürlich auch interessierte“, erinnert sie sich. „Das war für mich ein spannender Austausch, weil man dabei nicht nur über den Islam spricht, sondern über Migration und kulturelle Vielfalt insgesamt. Aber auch, weil man vielleicht überhaupt eine erste Begegnung schafft mit Menschen, die noch nie die Möglichkeit hatten, einen Menschen mit Migrationshintergrund zu sprechen.“ Eben jene Begegnungen sind es, die für Yilmaz ein so großes Gewicht haben, denn: „Vielen Menschen fehlen der Kontakt und das Hintergrundwissen. Viele können gar nicht die Frage stellen, die sie gern stellen wollen. Deswegen wollte ich diese Möglichkeit geben, diesen Raum schaffen.“

Raum für ihre Arbeit findet die Alumna der Uni Erfurt von 2016 bis 2018 auch im Thüringer Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz. Dort wirkt sie als Ehrenamtskoordinatorin und entwickelt mit Kolleginnen und Kollegen das Ehrenamtsbuch „Aktiv für Geflüchtete“, ein Leitfaden für ehrenamtliche Arbeit im Kontext der Migrationsbewegung. Dabei zehrt die gebürtige Berlinerin auch von ihren persönlichen Netzwerken: „Ich habe über ein sehr großes Netzwerk verfügt – schon vorher – und habe versucht, alle Anlaufstellen Thüringens zu komprimieren. Das war mein Schwerpunkt in diesem Buch“, resümiert sie. Aber auch über den Leitfaden hinaus macht Yilmaz ihre Netzwerke für geflüchtete Menschen im Freistaat nutzbar: Sie versucht Ärzte mit Migrations- und insbesondere Fluchthintergrund zu vernetzen, vermittelt Praktika beim Mitteldeutschen Rundfunk, gibt Einblicke in Berufswelten und hofft, damit wirtschaftlich wie sozial langfristige Perspektiven im neuen Heimatland zu eröffnen.

Dass sie jedoch nur zeitweise im Ministerium bleiben würde, stand für Medine Yilmaz von vornherein fest. Von ihrem Beruf als Konferenzdolmetscherin, in dem heute sie vorrangig im Auftrag der Bundesregierung arbeitet, wollte sie nur eine kurze Auszeit nehmen, „denn beides zusammen wäre zu viel gewesen.“ Doch als 2015 die Migrationswelle über Deutschland zusammenbrach, schätzten Expertinnen und Experten, dass es mindesten zwei oder drei Jahre dauern würde, bis die Folgen des gesellschaftlichen Wandels ihre volle Wirkung entfalteten. „In dieser schwierigen Zeit, in der sich Thüringen und Deutschland zu jener Zeit befand, wollte ich das meinige geben.“ Den Umgang des Freistaates mit der globalen Fluchtbewegung sieht sie indes kritisch: „Ich finde es sehr gut, dass wir eine rot-rot-grüne Regierung hatten, als die Geflüchteten gekommen sind“, urteilt sie. Trotzdem kritisiert sie, dass Thüringen eine tatsächliche Integration der Geflüchteten versäumt habe – auch, indem z. B. Posten in den Ministerien, der Verwaltung, dem Job-Center oder sogar in der Ausländerbehörde maximal mit „Alibi-Migranten“ besetzt seien.

Dass ein tatsächlicher interkultureller Austausch fehlt, war auch bei den jüngsten Thüringer Landtagswahlen zu erkennen: 23,4 % für die AfD. „Ich habe zum ersten Mal nach einem Wahlergebnis geweint“, erzählt Yilmaz offen. „Und ich hatte Angst.“ Ein Gefühl, dass ihr nicht fremd ist. „Man lebt ständig mit der Angst, was wird morgen passieren und dann kommt so eine Zahl – das ist wie ein Schlag ins Gesicht.“ Doch dass Yilmaz durch und durch Optimistin ist, lässt sich auch daran erkennen, dass sie den 23,4 % tatsächlich etwas Gutes abgewinnen kann: „Mich bewegt es gleichzeitig auch dazu, noch mehr zu machen. Mehr sichtbar zu sein. Mehr über diese Themen zu sprechen. Ich überlege auch, wie ich das meinige tun kann, um AfD-Wähler zu erreichen. Manchmal schaue ich mich auch um und manchmal hasse ich mich dafür, wenn ich mir denke: Wählt er oder sie die AfD? Versuchst du jetzt einen Dialog? Man wird dann auch ein bisschen ‚gaga‘ und paranoid. Aber ich würde wirklich gern über die gemeinsamen Ängste sprechen.“

„Ich musste mir meine eigene Emanzipation innerhalb der Familie hart erkämpfen. Und ich möchte viele Frauen dazu motivieren, das auch zu tun.“

MEdine Yilmaz

Doch ihre Zeit im Ministerium hatte Yilmaz auch noch etwas Anderes gezeigt: „Dort im Ministerium habe ich festgestellt: Die Menschen, die hier sind – denen geht es gut! Was ist aber mit den vielen Menschen, insbesondere den Frauen, die es nicht hierher schaffen?“ Entsprechend beginnt die Deutsch-Türkin darüber nachzusinnen, wie sie nicht nur lokal begrenzt in Erfurt wirken kann. Sie will auch international „Empowerment“ betreiben, das bedeutet: Menschen die Macht geben, über sich und ihr Leben frei zu bestimmen. Die Selbstermächtigung von Frauen ist ihr dabei ein ganz besonderes Anliegen – auch weil die junge Frau, die mit 17 Jahren zunächst eine arrangierte Ehe einging, sich ihre eigene Emanzipation „innerhalb der Familie hart erkämpfen musste. Und ich möchte viele Frauen dazu motivieren, das auch zu tun“.

Ihre kurdischen Wurzeln sensibilisieren sie dabei insbesondere für die Nöte im Nahen Osten: „Der nahe Osten brennt!“, sagt sie. „Er brennt schon seit Jahrzehnten und er wird weitere Jahrzehnte brennen.“ Mit ihrem Verein „Frauen für den Nahen Osten“, den Yilmaz 2018 gründet, will sie versuchen, eben diesen Brand „schübchenweise zu löschen.“ Sie wolle für die Menschen vor Ort „einen kleinen Garten schaffen“, erklärt sie die Ziele des Vereins. Die erste Frau, der das Projekt einen solchen Garten schuf, war Sawra: Bei einem Bombardement verlor Sawra 2017 in Syrien ihren Mann. Zusätzlich geriet ihr Bruder in Gefangenschaft der Terrormiliz IS. In einer Kultur, in der Frauen zumeist finanziell abhängig von männlichen Familienmitgliedern sind, folgt daraus für die Syrerin eine existenzbedrohende Notlage. Gemeinsam mit ihren zwei Schwestern und ihrem zwölfjährigen Neffen flieht die Witwe in die Türkei, wo sie als Schneiderin für sich und ihre Angehörigen selbstständig sorgen will. Dort fehlt es ihr allerdings an Materialien und Werkzeugen. Dank Spendengeldern kann der „Verein für Frauen für den Nahen Osten e.V.“, der über eine Partnerorganisation von Sawras Notlage erfährt, sie mit den notwendigen Mitteln ausstatten, um eine kleine Schneiderei an der Grenze zu Syrien aufzubauen. „Sawra sagte zu uns: ‚Dank Euch habe ich wieder das Atmen gelernt.‘“, erinnert sich Yilmaz an dieses erste Hilfsprojekt. „Es sind genau diese Momente, die mir die Freude und die Motivation geben, immer weiterzumachen.“

„Gerade in Zeiten, in denen die AfD wächst, müssen die Wissenschaftler sichtbarer werden, denn wenn der Faschismus kommt, wird die Wissenschaft die erste sein, die geht.“

Medine Yilmaz

Doch um etwas zu bewegen in der Welt, müsse man gar nicht so weit in selbigen hinausgehen, findet die Vereinsvorsitzende. Stattdessen genüge es, im Kleinen anfangen: zum Beispiel hier in Erfurt, hier an der Universität. „Die Uni kann sehr viel dazu beitragen und muss viel tun“, befindet sie über die gesellschaftliche Verantwortung der Hochschule. „Ich finde, die Wissenschaftler müssen aus ihrem Kämmerchen herauskommen. Gerade in Zeiten, in denen die AfD wächst, müssen die Wissenschaftler sichtbarer werden, denn wenn der Faschismus kommt, wird die Wissenschaft die erste sein, die geht. Wissenschaftler müssen deshalb in den Landkreisen und in den Regionen sein, wo die Menschen sich von der AfD mitgenommen fühlen. Sie müssen Denkräume schaffen – nicht nur hier in der Uni, sondern bei den Menschen vor Ort. Sie müssen überlegen, wie sie anhand von Projekten und kleinen Initiativen Menschen erreichen, die im Moment dem Populismus folgen. Denn wissen und forschen sind wichtig – aber sein Wissen zu teilen, ist ebenso wichtig!“

Und auch, wie ein solch kleines Projekt ‚zum Teilen‘ aussehen könnte, weiß Yilmaz schon ganz genau: „Ich wünschte mir, dass die Uni Leistungspunkte für soziales Engagement vergeben würde“, sagt sie und ausnahmsweise wird ihre sonst so feste Stimme ein bisschen leiser, während sich Medine Yilmaz vorstellt, was es bedeuten könnte, wenn jeder einen kleinen Anteil an einer besseren und vielfältigeren Welt hätte.

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Wenn die Welt zu Gast ist: Dietlinde Schmalfuß-Plicht unterstützt internationale Studierende in Erfurt https://weltbeweger.uni-erfurt.de/2019/11/05/dietlinde-schmalfuss-plicht/ Tue, 05 Nov 2019 09:29:02 +0000 https://weltbeweger.uni-erfurt.de/?p=1057 „Wir reisen nicht gern in die Welt – aus ökologischen Gründen“, erklärt Dietlinde Schmalfuß-Plicht. „Aber wir haben die Welt sehr gern bei uns zu Gast.“ Und deswegen öffnet die Mitarbeiterin der Universitätsbibliothek Erfurt immer wieder Gästen aus aller Welt nicht... Weiterlesen →

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„Wir reisen nicht gern in die Welt – aus ökologischen Gründen“, erklärt Dietlinde Schmalfuß-Plicht. „Aber wir haben die Welt sehr gern bei uns zu Gast.“ Und deswegen öffnet die Mitarbeiterin der Universitätsbibliothek Erfurt immer wieder Gästen aus aller Welt nicht nur Haus und Hof, sondern auch Herz und Seele: Seit 2007 beteiligt sie sich am Programm „Fremde werden Freunde“ – einer gemeinsamen Initiative der Erfurter Hochschulen sowie der Stadtverwaltung und des Thüringer Instituts für Akademische Weiterbildung. Ziel des Programms ist es, ausländischen Studierenden in Erfurt den Einstieg in den „deutschen Alltag“ zu erleichtern und ihnen fernab der Heimat „ein Gefühl von zuhause“ zu vermitteln.

Ein solches Gefühl haben in den vergangenen zwölf Jahren immerhin schon sechs ‚Patenkinder‘ bei Schmalfuß-Plicht und ihrer Familie gefunden: Gemeinsam gestalten sie die Freizeit, helfen bei der Orientierung in der fremden Stadt und meistern gelegentlich auch schon einmal die Herausforderungen deutscher Bürokratie. „Einmal hatten wir einen iranischen Doktoranden als Patenkind. Der hatte bei unserem ersten Treffen auch prompt einen Brief von der Versicherung dabei“, erinnert sich die Patin lachend.

Wie sehr das Angebot angenommen werde, das sei von Patenkind zu Patenkind verschieden, erzählt sie. Man könne ja auch vorher nicht wissen, was für einem Menschen man da begegne. Doch an einem Angebot zur Gemeinschaft mangele es keinesfalls: Über die individuellen Betreuungsverhältnisse hinaus treffen sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Programms zweimal im Jahr zu gemeinsamen Unternehmungen: Schlauchbootfahren auf der Saale zum Beispiel. Oder aber Sommerrodeln auf dem Inselsberg.

„Der Umgang mit Menschen anderer Kulturen verändert auch mein eigenes Denken.“

Dietlinde Schmalfuß-plicht

Aus einigen der Bekanntschaften, die Dietlinde Schmalfuß-Plicht und ihr Ehemann im Rahmen des Programms „Fremde werden Freunde“ geknüpft haben, entwickelten sich zum Teil tatsächlich langjährige Freundschaften: Mit einem Lächeln auf den Lippen erinnert sie sich an eine junge Frau aus Rumänien, die seinerzeit an der Willy Brandt School studierte. Heute arbeitet sie in Brüssel für die Europäische Union; spricht nur noch wenig Deutsch. Trotzdem ruft sie jedes Jahr zu den Geburtstagen ihrer einstigen Pateneltern an. Auch ihre eigene Mutter habe sie schon mit ihnen bekannt gemacht. „Das war ihr wichtig.“

Ein anderer Freund ist ein junger Iraner, der heute in Hamburg lebt und dort mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat – genau der, der damals den Brief von der Versicherung im Gepäck hatte. „Bis heute fragt er jedes Jahr an, ob er uns an Weihnachten besuchen und gemeinsam mit uns feiern kann. Und dass, obwohl er Moslem ist!“

An die internationalen Weihnachtsfeste, die Familie Schmalfuß-Plicht den vergangenen Jahren gefeiert hat, erinnert sich die Bibliotheksmitarbeiterin besonders gern. „Wie nennen es unsere ‚muslimische Weihnacht‘“, erzählt sie schmunzelnd. „Denn obwohl wir Christen sind und mein Mann selbst evangelischer Pfarrer ist, haben wir meist überwiegend muslimische Gäste um den Tannenbaum sitzen.“

Genau das ist es, was Schmalfuß-Plicht so mag: Wenn verschiedene Kulturen und Brauchtümer aufeinandertreffen und der eine vom anderen etwas Neues lernen kann. Auch, weil sie selbst an diesem Austausch wächst: „Der Umgang mit Menschen anderer Kulturen verändert mein eigenes Denken“, erklärt die studierte Philosophin, die parallel zu ihrer Tätigkeit an der Universität Erfurt eine philosophische Praxis in Erfurt besitzt. Dort bietet sie Menschen die Möglichkeit zum Dialog an. Regelmäßig lädt sie auch zu einem „Philosophischen Salon“ ein.

„Es ist ganz wichtig, sich über die fremde Kultur erzählen oder sie sich vorleben zu lassen.“

Dietlinde Schmalfuß-plicht

Im Kern ähneln sich ihre Arbeit in der philosophischen Praxis und das Programm „Fremde werden Freunde“ dabei sehr: Beide wollen im Austausch bleiben über verschiedene Weltanschauungen und Überzeugungen, über Ideen sowie Fragen des Werdens, des Seins und des Vergehens. Auch ihre internationalen Gäste nehmen das Angebot der philosophischen Praxis gelegentlich wahr, freut sich die Praxisinhaberhin: „Einmal hat ein Studierender selbst einen philosophischen Salon gestaltet“, erzählt sie. Es sei an diesem Abend um das Denken und das Weltbild des Islams gegangen. Ein im Zuge von globaler Migration und Flüchtlingskrise andauernd aktuelles Thema.

Das Programm „Fremde werden Freunde“ bietet damit nicht nur Studierenden aus aller Welt Halt und Stabilität. Auch die Universität, die Stadt Erfurt und natürlich die Menschen, die hier leben und sich im Programm engagieren, können von dem Austausch profitieren: „Ich denke, dass man Vorurteile abbauen kann, wenn man die Menschen persönlich kennenlernt. Es ist ganz wichtig, sich über die fremde Kultur erzählen oder sie sich vorleben zu lassen“, sagt Dietlinde Schmalfuß-Plicht.

Auch sie selbst habe – bei aller Erfahrenheit im internationalen Umgang – durchaus Themen, an denen sie auch nach vielen Kontakten noch immer „knabbere“. Der Ramadan zum Beispiel. Zwar sei ihr als Christin das Konzept der Fastenzeit keineswegs fremd, erklärt sie. Jedoch erscheine es ihr widersinnig, am Tag weder essen noch trinken zu dürfen, dafür aber bei Nacht. „Es fällt mir schwer, dafür Verständnis aufzubringen. Gerade wegen der gesundheitlichen Risiken. Aber man muss derlei fremde Bräuche auch tolerieren und annehmen können.“

Genau das ist es, was für Dietlinde Schmalfuß-Plicht den Kern einer Freundschaft ausmacht: „Ich verstehe unter Freundschaft, dass ich jemanden auch sein lassen kann, wie er eben ist. Und dass man nicht immer seine eigene Ansicht aufstülpen muss. Das ist auch das, was zu ‚Fremde werden Freunde‘ gehört.“

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„Wir wollen Kindeswohl auf Tagesordnungspunkt eins unserer Agenda haben!“ Myriam Wijlens setzt sich international für den Kinderschutz ein https://weltbeweger.uni-erfurt.de/2019/10/25/weltbewerger-myriam-wijlens/ Fri, 25 Oct 2019 10:59:10 +0000 https://weltbeweger.uni-erfurt.de/?p=1012 Regelmäßig wird sie von fremden Menschen angesprochen. An Bahnhöfen zum Beispiel. Oder auch schon einmal zwischen Kartoffeln und Zwiebeln im Supermarkt: Sie sei doch die Frau, die für den Papst arbeite. Die, die sich für den Kinderschutz engagiere. Wenn man... Weiterlesen →

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Regelmäßig wird sie von fremden Menschen angesprochen. An Bahnhöfen zum Beispiel. Oder auch schon einmal zwischen Kartoffeln und Zwiebeln im Supermarkt: Sie sei doch die Frau, die für den Papst arbeite. Die, die sich für den Kinderschutz engagiere. Wenn man sie darauf anspricht, dann freut das Prof. Dr. Myriam Wijlens. Denn es zeigt, dass die Arbeit der Theologin nicht nur im Dunstkreis der katholischen Kirche wirkt, sondern dass sie dort ankommt, wo sie ankommen soll: nicht allein bei Kirche und Klerus, sondern auch bei ganz alltäglichen Menschen – Menschen, wie man sie eben an Bahnhöfen oder in Supermärkten trifft.

Die Kirchenrechtlerin der Universität Erfurt engagiert sich umfassend im internationalen Kinder- und Jugendschutz. „Seit mehr als 30 Jahren bin ich an dem Thema dran“, sagt sie. Weit bevor die großen kirchlichen Missbrauchsskandale durch die deutschen Medien rollten also. Weit vor der MHG-Studie von 2018. Weit vor „Spotlight„, dem Medienspektakel, das 2002 tausendfachen sexuellen Missbrauch durch römisch-katholische Priester in den USA an die Öffentlichkeit brachte und die Kirche anschließend international in eine schwere Krise stürzte. Eine Krise, die bis heute nicht ausgestanden ist.

Wijlens betrachtet die Krisenherde dabei sowohl auf internationaler als auch lokaler Ebene: In den späten 1980er Jahren engagierte sie sich zunächst in Kanada. Dort mussten Leitlinien für Bischöfe, denen konkrete Hinweise auf Fälle sexuellen Missbrauchs im eigenen Bistum vorlagen, entwickelt werden. Mitte der 1990er Jahre war sie an der Entwicklung ähnlicher Richtlinien für die katholische Kirche in den Niederlanden beteiligt. 2004 schließlich wurde die Theologin erstmals auch von einem deutschen Bischof damit beauftragt, einer Anzeige aus kirchenrechtlicher Perspektive nachzugehen. Im Jahr darauf zog die Bundesstaatsanwaltschaft in Irland sie als Expertin in einem laufenden Gerichtsverfahren bezüglich fahrlässigen Handelns durch kirchliches Leitungspersonal hinzu.

„Wir wollen Institutionen vertrauen können.“

Prof. Dr. Myriam Wijlens

In mehr als 100 Verfahren war Prof. Wijlens inzwischen tätig. Sie geht dabei stets konkreten Fällen nach und bereitet notwendige Akten für den Vatikan vor. Basierend auf dieser umfassenden Erfahrung ernannte sie Papst Franziskus im vergangenen Jahr zum Mitglied der „Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen“. Als Kommissionsmitglied ist es ihre Aufgabe, den Bischof von Rom in Fragen des Kinderschutzes zu beraten: In Kooperation mit Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Fachbereichen spricht die gebürtige Niederländerin Handlungsempfehlungen im Hinblick auf Missbrauchsprävention, Opferschutz sowie den Ablauf eines Verfahrens und allgemeine Strukturen der Kirche aus. Begriffe wie Aufklärung, Transparenz, Rechenschaft, Rechte von Opfern und Beschuldigten im Verfahren stehen im Mittelpunkt ihrer Arbeit.

Papst Franziskus, Myriam Wijlens
Bildrechte: Servizio Fotografico Vaticano

Die besondere Schwere des Missbrauchs durch Kleriker ergibt sich für Wijlens dabei aus dem „Vertrauensvorschuss“, den Gläubige der Kirche als moralischer Institution gewähren: „Wenn ein Kind nach der Schule einen Klassenkameraden zum Spielen besuchen möchte“, versinnbildlicht sie, „dann werden seine Eltern zumeist erklären: ‚Ich rufe mal kurz bei der Mutter an, um zu fragen, ob das in Ordnung ist‘. Im Grunde aber wollen die Eltern damit wissen, wohin ihr Kind eigentlich geht, also: Was ist das für eine Familie? Kann ich mein Kind diesem Umfeld anvertrauen? Wenn das Kind dagegen sagt, dass es nach dem Unterricht noch zum Spielen in die Pfarrgemeinde möchte, dann lassen die Eltern das in aller Regel ohne weitere Rückfragen zu. Da erkundigt man sich nicht, wer dort gerade ‚Dienst‘ hat. Weil es schließlich ‚die Kirche‘ ist. Weil wir Institutionen vertrauen wollen.“

Doch eben diese Vertrauensfrage stellt sich nicht nur in der Kirche. Sie stellt sich auch in Krankenhäusern, in Universitäten, in Schulen oder im Sportverein – kurzum: in jeglichen Institutionen und Einrichtungen, in denen Beziehungen zwischen Menschen notwendigerweise strukturiert und geordnet werden müssen. In jede dieser Strukturen sei dabei auch stets ein Mindestmaß an Vertrauen eingewoben, betont die Theologin. Vertrauen nämlich gegenüber jenen Menschen, die die Institution repräsentieren. „Und dieses Vertrauen kann missbraucht werden“, so Wijlens. „Zum einen direkt durch die Menschen, die vor Ort tätig sind. Zum anderen aber natürlich auch durch diejenigen, die Verantwortung für die Strukturen der jeweiligen Institution tragen. Für letztere geht damit auch die Frage einher, wie Sie mit ihrer Macht und Leitungsverantwortung im Hinblick auf etwaige Anschuldigungen zu Missbrauchsfällen umgehen. Es stellt sich dann etwa die Frage, wie mit konkreten Beschuldigungen umzugehen ist, während gleichzeitig die vertrauenswürdige Außendarstellung der Institution aufrecht erhalten bleiben soll.““

„Ich will zeigen, dass die Theologie etwas leisten kann.“

Prof. Dr. Myriam Wijlens

Aus diesem Grund betrachtet die Kirchenrechtlerin Aspekte des Kinder- und Jugendschutzes nicht allein im Kontext der Religion. Sie will den Blick öffnen – für sich selbst, aber auch für andere. Und sie will zeigen, dass „die Theologie etwas leisten kann.“ Dass sie etwas zu sagen hat, auch in kirchenfernen Anwendungsbereichen. Deswegen bietet Myriam Wijlens an der Universität Erfurt seit vielen Jahren gleich zwei Lehrveranstaltungen zum Thema Kinder- und Jugendschutz an: Im Rahmen des Seminars „Missbrauch in Institutionen“ sowie in der Vorlesungsreihe „Kindeswohl: Rechte – Schutz – Förderung“ will sie Studierende für das Thema sensibilisieren und sie zum eigenverantwortlichen und selbstwirksamen Umgang mit Missbrauchsprävention ermächtigen.

Besonders erfreut ist die Professorin dabei über die große Heterogenität der Studierenden, die in ihren Lehrveranstaltungen zusammenfinden: „Sie kommen zum Beispiel aus den Staatswissenschaften, aus der Pädagogik und aus dem Lehramt“, erzählt sie. „Ich habe pro Semester mehr als 130 Studierende in diesen Lehrveranstaltungen sitzen, die nichts mit Theologie zu tun haben, die aber von den Überlegungen der Theologie lernen wollen.“

Und zu lernen gibt es viel, davon ist Myriam Wijlens überzeugt. Und für jeden etwas Anderes: Studierende der Rechtswissenschaften animiert sie dazu, mit einem Richter des Landgerichtes Erfurt in Kontakt zu treten. Der wiederum lädt Studierende häufig dazu ein, Prozessverhandlungen vor Gericht beizuwohnen. Nirgendwo ließe sich besser zeigen, dass dort auf der Anklagebank in aller Regel „keine Monster“ sitzen, sondern gewöhnliche Menschen, wie man sie „auch im Biergarten treffen“ könne. „Wir werden dort mit falschen Bildern in unseren Köpfen konfrontiert, die wir korrigieren müssen“, betont die Kirchenrechtlerin. Studierende der Psychologie fordert Prof. Wijlens indes dazu auf, sich mit Methoden zu befassen, wie ein fünfjähriges Kind zu vernehmen und seine Aussage auf einen Wahrheitsgehalt zu prüfen sei. Studierende der Sportwissenschaft spricht sie darauf an, welche Ausbildung ihnen selbst als zukünftigen Trainerinnern und Trainer im Hinblick auf Missbrauchsprävention zuteil geworden sei. „Meist nicht allzu viel“, resümiert sie. Denn Kinderschutz sei „so lange ein blinder Fleck, bis etwas passiert.“

Eben dieser blinde Fleck ist es, gegen den die Professorin angehen möchte. Sie will ein Bewusstsein für das oftmals weithin unsichtbare Problem schaffen und Prävention vor die Reaktion setzen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihres Seminars erhalten deshalb seit einigen Semestern ein Zertifikat, das ihnen ein erfolgreich absolviertes Präventionstraining im Umgang mit Missbrauchsfällen bescheinigt. Auf diese Weise möchte Prof. Wijlens Studierende zum proaktiven Handeln ermächtigen – etwa indem sie sich weiterführend in Kinderheimen engagieren, in pädagogischen Fördereinrichtungen oder auch in der Kinderambulanz eines Krankenhauses.

„Wir müssen die Bilder in unserem Kopf korrigieren.“

Prof. Dr. Myriam Wijlens

Denn der Kirchenrechtlerin ist es ein zentrales Anliegen, dass Resultate ihrer Arbeit nicht nur in Theologie und Kirche sichtbar werden, sondern auch in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext: „Ja, ich mache das auch für die Kirche“, sagt sie. „Aber die Kirche ist ein Vehikel für mich. Ein Vehikel, in dem meine Expertise anerkannt wird. Aber das, was wir in der Kirche in der Aufarbeitung und der Prävention von Missbrauchsfragen leisten können, sollte einen Transfer in die ganze Gesellschaft erleben. Und genau dazu kann und muss die katholische Kirche etwas beitragen. Wir müssen sagen: ‚Wir wollen Kindeswohl auf Tagesordnungspunkt eins unserer Agenda haben!'“

Dass Wijlens Kinderschutz dabei im Großen wie im Kleinen denkt, zeigt sich als sie abschließend den Blick von Rom zurück nach Erfurt wendet: „Ich halte es für wichtig, dass ausgerechnet ich als Mitglied der Katholisch-Theologischen Fakultät im Senat der Universität Erfurt sitze und dort die Frage aufwerfe, was wir auch hier ganz konkret vor Ort für den Kinderschutz tun; hier an unserer eigenen Universität, an der wir auch für und mit Kindern forschen!“ Vor Ort sein und vor Ort handeln – das ist der Theologin ein wichtiges Anliegen. Ein Anliegen, in dem sie sich jedes Mal aufs Neue bestärkt fühlt, wenn sie wieder einmal von fremden Menschen auf offener Straße auf ihr Engagement im Kinderschutz angesprochen wird.

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Prof. Dr. Marcel Helbig deckt soziale Missstände auf https://weltbeweger.uni-erfurt.de/2019/10/21/weltbeweger-marcel-helbig/ Mon, 21 Oct 2019 10:41:23 +0000 https://weltbeweger.uni-erfurt.de/?p=1004 Über das „Schwert der Wissenschaft“ etwas bewegen, auf gesellschaftliche Missstände hinweisen und Diskurse anstoßen – etwas, das Marcel Helbig, Professor für Bildung und Soziale Ungleichheit an der Uni Erfurt und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), mit seinen... Weiterlesen →

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Über das „Schwert der Wissenschaft“ etwas bewegen, auf gesellschaftliche Missstände hinweisen und Diskurse anstoßen – etwas, das Marcel Helbig, Professor für Bildung und Soziale Ungleichheit an der Uni Erfurt und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), mit seinen verschiedenen Studien verfolgt und ihn antreibt. Als gefragter Experte für das Themengebiet soziale Ungleichheit – insbesondere in den Bereichen Bildungs- und Stadtsoziologie – steht er mittlerweile regelmäßig in der Öffentlichkeit und macht auf soziale Problemlagen aufmerksam…

Dabei habe er die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Laufbahn und das Thema Ungleichheit erst relativ spät für sich entdeckt. „Gegen Ende des Master-Studiums an der HU Berlin wurde mir durch Seminare im Bereich der Bildungssoziologie immer mehr bewusst, wie ungerecht das deutsche Schulsystem ist und wie sehr die Bildungswege davon abhängen, in welchem Elternhaus man geboren ist“, führt er aus: „Und oftmals wird in der Öffentlichkeit nicht reflektiert, dass es dafür durchaus strukturelle Gründe gibt. Darauf hinzuweisen, war mir immer wichtig.“ Helbig selbst stammt aus einer Arbeiterfamilie und erinnert sich noch an seine anfänglichen Zweifel hinsichtlich eines Studiums. Bildung im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit zählt bis heute zu einem seiner zentralen Forschungsthemen. Vor diesem Hintergrund legt der gebürtige Erfurter mittlerweile auf das Thema der Privatschulen ein besonderes Augenmerk. „Bei der sozialen Zusammensetzung von privaten und öffentlichen Schulen sieht man die Ungleichheit einfach extrem. Und in der Gesellschaft gilt es als normal, dass sich eben nicht jeder den Besuch einer Privatschule leisten kann.“ Dies stehe jedoch dem Grundgesetz entgegen, denn: „Private Schulen müssen für alle Kinder offenstehen, deswegen bekommen sie schließlich auch Förderung vom Staat“, erklärt der Sozialwissenschaftler.

„Ich wollte weniger Theorien aus dem wissenschaftlichen ‚Elfenbeinturm‘ nacheifern, als vielmehr schauen, inwieweit die jeweilige Fragestellung relevant für die Gesellschaft ist.“

Prof. Dr. Marcel Helbig

Über die intensivere Betrachtung der Privatschulen in Berlin entwickelte sich die soziale Spaltung in Städten zu einem weiteren Forschungsstrang, zu dem er gemeinsam mit Stefanie Jähnen vom WZB im vergangenen Jahr eine vielbeachtete Studie veröffentlichte. „Die Studie zur sozialen Segregation wurde unglaublich breit in der Öffentlichkeit angenommen. Innerhalb von zwei Tagen hatten wir fast 100 Pressemeldungen“, erzählt Helbig. Und nicht nur das. Für den Sozialforscher folgten darauf Fernsehauftritte und mehr als 40 Vorträge. Neben diversen Veranstaltungen in Erfurt standen u.a. Termine in verschiedenen Stadträten, bei dem Gesamtverband der Wohnungswirtschaft und auch in der Kabinettssitzung von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern auf dem Programm. Was ihn dazu motiviert? „Über diese ganzen Geschichten sammelt man gute Verbindungen in Stadt und Land – am Ende die Verbindungen, die es braucht, um lokal etwas bewegen und mitreden zu können.“ So arbeitete Helbig aktuell beispielsweise am zweiten Thüringer Sozialstrukturatlas mit, der neben der Analyse sozialer Problemlagen, auch klare Handlungsempfehlungen an die politischen Entscheidungsträger beinhaltet.

Etwas, das seinen verschiedenen Studien gemein ist: Valide Daten als Forschungsgrundlage und eine starke Ausrichtung an der Öffentlichkeit. Denn bereits durch erste Veröffentlichungen während seiner Dissertationszeit wurde dem heute 39-Jährigen bewusst, dass Wissenschaft durchaus in die Gesellschaft wirken kann – ein Aspekt, der handlungsleitend für seine weitere Forschung werden sollte. „Ich wollte weniger Theorien aus dem wissenschaftlichen ‚Elfenbeinturm‘ nacheifern, als vielmehr schauen, inwieweit die jeweilige Fragestellung relevant für die Gesellschaft ist – und im weiteren Schritt, wie man mit den vorliegenden Ergebnissen eine positive Veränderung erzielen kann.“

„Als Forscher erzähle ich den Leuten natürlich nicht, was sie tun sollen. Vielmehr lege ich den Finger in die Wunde und versuche den jeweiligen Entscheidungsträgern Input und Argumentationsgrundlagen zu liefern.“

Prof. Dr. Marcel Helbig

Ob es bei all der positiven Resonanz auch Schattenseiten gibt? „Ist ein Thema einmal in der Öffentlichkeit, gibt man es auch immer ein bisschen aus der Hand – je nachdem, welche Prämisse die Journalisten setzen.“ So wurde in den Meldungen zur Segregationsstudie oft von „Ghettoisierung“ gesprochen, „obwohl wir diesen Begriff nur an einer Stelle im Zusammenhang mit dem USA verwendet haben“, gibt er zu bedenken. Und nicht nur deswegen müsse man sich als Forscher ein „dickes Fell“ zulegen, wenn man Studien veröffentlicht, die sich auch an die Öffentlichkeit richten. „Für die ein oder andere Aussage, bekommt man auch schon mal Gegenwind. Als ich beispielsweise in einer Lokalzeitung direkt eine Privatschule in der Nähe kritisierte, sorgte dies insbesondere bei Facebook für große Aufregung“, erinnert sich Marcel Helbig. Und trotz des Trubels sei das Thema nach zwei Tagen wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden – somit auch ohne politische Konsequenzen.

„Am Ende braucht es eben immer noch die Politik oder Zivilgesellschaft, die auf ein Thema ‚aufspringen‘ muss. Deswegen darf man als Forscher nicht glauben, die Welt retten zu können“, erklärt er mit einem gewissen Pessimismus, der ihn jedoch nicht davon abhält, immer wieder in die Öffentlichkeit zu gehen, Debatten anzustoßen und so Themen auf die politische Agenda zu bringen. Die Überzeugung und die Gewissheit, für eine wichtige Sache einzustehen, treiben den Sozialwissenschaftler an. Was er aber betont: „Als Forscher erzähle ich den Leuten natürlich nicht, was sie tun sollen. Vielmehr lege ich den Finger in die Wunde und versuche den jeweiligen Entscheidungsträgern Input und Argumentationsgrundlagen zu liefern. Und manchmal muss man dafür eben laut genug ‚brüllen‘, um gehört zu werden.“

Originalfoto: Bernhard Ludewig

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Mit dem Mut zum offenen Wort: Julia Knop treibt Reformen in der katholischen Kirche voran https://weltbeweger.uni-erfurt.de/2019/10/08/weltbeweger-julia-knop/ Tue, 08 Oct 2019 10:32:58 +0000 https://weltbeweger.uni-erfurt.de/?p=961 „Ich empfinde die aktuelle Situation der katholischen Kirche als dramatisch“, erklärt Julia Knop. Fernab jeglicher Übertreibung fährt die Professorin für Dogmatik an der Universität Erfurt fort: „Ich habe den Eindruck, dass wahnsinnig viel auf dem Spiel steht, und ich denke,... Weiterlesen →

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„Ich empfinde die aktuelle Situation der katholischen Kirche als dramatisch“, erklärt Julia Knop. Fernab jeglicher Übertreibung fährt die Professorin für Dogmatik an der Universität Erfurt fort: „Ich habe den Eindruck, dass wahnsinnig viel auf dem Spiel steht, und ich denke, dass sich in den nächsten zwei, drei Jahren entscheidet, welche Zukunft die katholische Kirche in Deutschland hat: ob es ein vitaler, an der Gegenwart orientierter Katholizismus ist oder ein auf ein ganz bestimmtes Milieu verengter Retrokatholizismus.“ Ihre Prognose wirkt erschreckend, umso mehr, da sich die drohende Bedeutungslosigkeit der Kirche in ihren Zahlen widerspiegelt: Allein im vergangenen Jahr verließen hierzulande mehr als 200.000 Gläubige ihren Schoß. Damit ist 2018 das Jahr mit den zweitmeisten Kirchenaustritten seit dem Zweiten Weltkrieg. Für die Theologin „ein Katastrophenjahr“.

Im ‚Auge des Sturms‘ stehen dabei Themen, die an sich nicht neu sind: Es geht um kirchliche Sexualmoral, um priesterliche Lebensformen und um die Gleichberechtigung der Frau am Altar. Eigentlich ‚ein alter Hut‘, konstatiert die Wissenschaftlerin: „Diese Themen sind seit 40, 50 Jahren im Gespräch.“ Neu ist allerdings, dass man all diese Themen auch im kirchlichen Diskurs unter Zuhilfenahme eines politisch aufgeladenen Machtbegriffes debattiert. Macht, nicht in einem göttlich-legitimierten, sondern in einem ganz irdischen und damit fehlbaren Sinne: Macht zwischen Rom und der Ortskirche. Macht zwischen Klerikern und kirchlichen ‚Laien‘. Macht zwischen den Geschlechtern.

Und neu ist die Brisanz, mit der diese Debatte geführt wird. Ebenso wie die öffentliche Resonanz, die sie erfährt: „Die Grundakzeptanz seitens der Gläubigen ist nicht mehr da“, kommentiert Julia Knop die Haltung vieler Katholikinnen und Katholiken. „Man will es einfach nicht mehr hinnehmen: das Verschweigen kirchlicher Gewalt, die pseudoreligiöse Relativierung von Macht, die Sonderdiskurse, durch die vormoderne Vorstellungen und Strukturen fixiert werden sollen.“ Und dass man es nicht mehr hinnehmen will, dieser Umstand verdankt sich einem zunehmend kritisch-konstruktiven Diskurs, der gegen das strukturkonservative Denken vieler Kirchenverantwortlichen aufbegehrt. Einem Diskurs, den die Theologin nicht nur mitgestaltet, sondern in seiner aktuellen Form vielleicht sogar mitangestoßen hat.

„Die Kirche hat jeglichen Kredit verspielt.“

Prof. Dr. Julia Knop

Doch der Reihe nach. Was ist geschehen? Im Frühjahr 2019 traf sich im niedersächsischen Lingen die Deutsche Bischofskonferenz zu einem Studientag in dessen Mittelpunkt „Die Frage nach der Zäsur“ stand. Der Studientag sollte übergreifende Fragen behandeln, die sich gegenwärtig stellen. Er war damit eine Antwort auf die sogenannte MHG-Studie, die 2018 das schreckliche Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen durch Kleriker ans Licht der Öffentlichkeit gebracht hatte.

Julia Knop, die seit 2016 die Professur für Dogmatik an der Universität Erfurt innehat, war eingeladen, den Studientag zu eröffnen und zu moderieren. Vielleicht mag manch einer der Organisatoren diese Einladung im Nachhinein bereut haben, denn die gebürtige Münsterländerin ging mit den Oberhirten der katholischen Kirche hart ins Gericht: Vor den Augen und Ohren der versammelten deutschen Bischöfe prangerte sie an, dass die Kirche durch ihr unterlassenes Handeln im Missbrauchsskandal „jeglichen Kredit verspielt“ habe. Dass dringend notwendige Debatten, die spätestens zur Aufarbeitung – vielleicht auch schon zur Prävention – der Missbrauchsfälle geführt hätten werden müssen, nicht nur „nicht gewünscht, sondern tabuisiert“ worden seien. Dass „systemische Defekte“ nicht länger zu leugnen seien.

Das Medienecho, das die Dogmatikerin damit auslöste, war groß. Kaum eine katholische Zeitung, die nicht über die Ereignisse in Lingen berichtet hätte. Doch auch abseits des öffentlichen Radars erreichten die Wissenschaftlerin zahlreiche Rückmeldungen. Ihre Worte seien „mutig“ gewesen, urteilten insbesondere Kolleginnen und Kollegen und bekannten damit, dass das angstfreie Sprechen in der katholischen Theologie auch im Jahr 2019 keine Selbstverständlichkeit ist. Auf kirchliche Laien hätten ihre Worte „erleichternd“ gewirkt, denn endlich habe „sich mal jemand getraut, den Mund aufzumachen.“

Den Mund aufzumachen und sich an prominenter Stelle Gehör zu verschaffen – genau das hat Julia Knop als ihre ureigene Verantwortung wahrgenommen. „Man hatte mich schließlich eigens dazu eingeladen, in Lingen zu sprechen“, betont sie. „Dabei war auch immer klar, welche Rolle ich einnehmen würde: dass ich nicht nur Wortmeldungen moderieren, sondern auch einen inhaltlichen Einstieg anbieten würde. Natürlich kann man da nicht erwarten, dass man nur bequeme Themen anspricht.“ Bequem war es sicher nicht, was die Professorin in Lingen auf den Tisch packte, aber aus ihrer Sicht dringend notwendig.

„Es geht um nicht weniger als die Frage, ob der pluralismusfähige Katholizismus eine Zukunft hat.“

Prof. Dr. Julia Knop

Die Versammlung der Bischöfe endete mit dem Beschluss, einen „synodalen Weg“ in Deutschland einzuleiten. Er soll Reformprozesse in der katholischen Kirche anstoßen und damit zur Erneuerung derselben beitragen. Dass es zu einer solchen Entscheidung kommen würde, war im Vorfeld des Studientages nicht abzusehen. „Während des Studientages hat sich eine Dynamik entwickelt, die mit Händen geradezu greifbar, aber keinesfalls im Vorfeld planbar war“, resümiert Knop. Waren es dabei vielleicht sogar erst die schonungslosen Worte der Theologin, die den synodalen Weg mit aus der Wiege gehoben haben? Über ihren eigenen Anteil am Beschluss zum synodalen Weg urteilt die Dogmatikerin: „Es war eine ganze Reihe von Leuten, die da gut zusammengespielt haben: in der Vorbereitung, seitens der Referenten und Gäste, deren Anwesenheit und Engagement sehr wichtig war. Aber ich glaube, der Freimut aller Beteiligten zum offenen Wort, ob in den Impulsen, im Plenum oder in den Arbeitsgruppen – der der hat viel bewirkt.“

Der Mut zum offenen und bewusst kritischen Wort, aber auch zur Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen ist Julia Knop wichtig. Auch, weil es genau diese Schlüsselkompetenzen braucht, um die katholische Kirche nicht mehr länger nur mit gutem Willen ‚künstlich zu beamten‘, sondern sie wieder lebens- und gesellschaftsfähig zu machen. Denn mit Blick auf die beständig rückläufigen Kirchenmitgliedszahlen in Deutschland sieht die Wissenschaftlerin langfristig die Gefahr einer „Milieuverengung“. Gemeint ist, dass nur die „vermeintlich aufrechten Katholiken“, also die konservativen und institutionsaffinen Mitglieder der katholischen Kirche treu bleiben, während sich „kritischere Geister nach und nach verabschieden, weil sie keine Zukunft sehen“, formuliert sie ihre Bedenken: „Es geht um nicht weniger als die Frage, ob der pluralismusfähige Katholizismus eine Zukunft hat.“

„Wir brauchen eine Selbstverpflichtung der Kirche auf heutige Standards.“

Prof. Dr. Julia Knop

Derzeit wird der synodale Weg in Deutschland vorbereitet. Ab 2020 soll er umgesetzt werden. Dazu wurden Arbeitskreise – sogenannten Foren – eingerichtet, die sich einleitend mit den zentralen Themen der Krise beschäftigen: „Sexualmoral“, „Priesterliche Lebensform“ sowie „Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“ und „Macht, Partizipation und Gewaltenteilung“. Julia Knop wirkt als Teilnehmerin des letzteren Forums an dieser Agenda mit.

Ihre Forderungen dabei sind klar: „Wir brauchen eine Selbstverpflichtung der Kirche auf heutige Standards.“ Standards, wie sie sich aus einem gesamtgesellschaftlichen Wandel zugunsten einer liberalen Wertehaltung ergeben: „Standards des freien Diskurses sowie Standards des demokratischen Zugangs zu gemeinsamen Fragen“, erörtert sie. „Beteiligung darf nicht heißen: Wir delegieren mal ein paar Aufgaben des Klerus‘ an Ehrenamtliche, weil wir ohnehin zu wenig Priester haben. Es muss stattdessen eine breite und langfristige Beteiligung kompetenter Gläubiger an der Leitung und Gestaltung der Kirche geben!“

Dafür brauche es aber vor allem eines: einen „glaubhaften Mentalitätswandel“. Das nach wie vor seitens zahlreicher Kirchenherren gelebte „Kontrolldenken“ und „Autoritätsgehabe“ sei schlichtweg „nicht mehr zeitgemäß“, befindet die Theologin, der nicht nur die Freiheit der Wissenschaft, sondern auch die generelle Freiheit im Denken und Sprechen aller Gläubigen ein großes Anliegen ist. Aber ein solcher Wandel brauche eben Zeit. Zeit, die die katholische Kirche strenggenommen nicht mehr habe.

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Die „MINTy Girls“ haben Berufsstereotypen den Kampf angesagt https://weltbeweger.uni-erfurt.de/2019/09/10/weltbeweger-minty-girls/ Tue, 10 Sep 2019 09:37:23 +0000 https://weltbeweger.uni-erfurt.de/?p=942 Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – ein Feld, das man lieber den „Jungs“ überlassen sollte? Von wegen, sagen Ariana Barrenechea, Sonia Gonzales und Nicole Oubre. Die drei Studentinnen der Willy Brandt School of Public Policy an der Universität Erfurt sind fest... Weiterlesen →

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Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – ein Feld, das man lieber den „Jungs“ überlassen sollte? Von wegen, sagen Ariana Barrenechea, Sonia Gonzales und Nicole Oubre. Die drei Studentinnen der Willy Brandt School of Public Policy an der Universität Erfurt sind fest entschlossen: Sie wollen eine neue Generation an selbstbewussten Mädchen in den sogenannten MINT-Bereichen fördern. Und haben dafür ihr eigenes Startup gegründet – die „MINTy Girls“.

„Verschiedene Studien zeigen, dass Mädchen in Deutschland bereits im Alter von etwa elf Jahren das Interesse an MINT-Fächer verlieren“, erläutert Sonia Gonzales. Das Ergebnis: Nicht einmal jeder dritte Ingenieur ist weiblich. In den vergangenen Jahren gab es laut Aussage des Instituts der Deutschen Wirtschaft einen Rückgang der Frauen in MINT-Berufen von sechs Prozent im Jahr 2005, auf nur 2,6 Prozent im Jahr 2016. „Erschwerend kommt hinzu, dass Mädchen im Gegensatz zu Jungen eher dazu neigen, ihre mathematischen Fähigkeiten zu unterschätzen. Wenn wir das ändern wollen, müssen wir ein neues Interesse bei den Mädchen wecken und ihr Selbstvertrauen stärken – am besten noch bevor sie in die fünfte Klasse kommen.“ Und Nicole Oubre ergänzt: „Dafür ist es wichtig, Stereotype zu überwinden, die vermeintlich vorgeben, wer in welchen Beruf gehört.“

Und genau das haben sich die drei Gründerinnen mit den „MINTy Girls“ zur Aufgabe gemacht. Sie wollen Workshops und Bootcamps für Mädchen ab acht Jahre anbieten, die dabei von weiblichen Vorbildern geleitet werden und in denen deren Kreativität und das Interesse in MINT-Fächern nicht nur geweckt, sondern auch langfristig gefördert wird. Ihre Idee entstand bei einem Social Entrepreneurship-Seminar an der Universität Erfurt. Darin sollten die Studentinnen eine Geschäftsidee entwickeln, die einen positiven Beitrag für die Gesellschaft leistet. Die „MINTy Girls“ wurden aus der Taufe gehoben. Aber es sollte nicht bei der Idee bleiben: Ariana Barrenechea, Sonia Gonzales und Nicole Oubre machten sich auf den Weg, Unterstützer zu finden und ihr Projekt Wirklichkeit werden zu lassen. „Wir haben in unserem direkten Umfeld überwältigende Unterstützung erhalten. Unsere Professorin, Heike Grimm, hat uns vom ersten Tag an sehr ermutigt. Zudem haben wir Hilfe vom Gründerservice der Universität erhalten. Und das positive Feedback, das wir während der Investor Days Thüringen von den Menschen bekommen haben, die an unseren Stand gekommen sind, hat uns natürlich zusätzlich motiviert. Viele haben uns gesagt, wie wichtig unser Programm ist, und dass sie ihre Töchter anmelden wollen“, erklären die drei Studentinnen.

„Wir müssen das einfach tun. Wir haben die Fähigkeiten und den Mut zu diesem Startup und wir sind die richtigen Frauen für diesen Job.“

Für ihren Pilot-Workshop haben sie inzwischen nicht nur eine Erfurter Schule gefunden, sondern auch ein lokales Unternehmen, das sie bei ihrer Arbeit unterstützt. Im November wird es losgehen. Und im Sommer 2020 sollen die ersten Camps für Mädchen stattfinden. Auf die Frage, wie ihr mittelfristiges Ziel aussieht, müssen sie nicht lange überlegen: Ariana, Sonia und Nicole wollen ihreMINTy Girls“-Workshops und Bootcamps in ganz Deutschland anbieten und darüber hinaus eine Online-Plattform schaffen, mit der sie so viele Mädchen wie möglich erreichen können. „Wir wollen eine Marke werden“, sagen sie selbstbewusst. „Eine Marke, die junge Mädchen inspiriert und ihnen berufliche Chancen eröffnet, an die sie vielleicht heute noch gar nicht denken.“ Dafür wollen die drei jungen Frauen nicht nur mit Schulen, sondern auch mit Gemeinden und Unternehmen zusammenarbeiten. Was es dafür braucht? Ideen, Mut und Durchsetzungskraft. Haben sie. Weitere Investoren. Die suchen sie noch. Aber die Studentinnen wissen, dass sie ihnen auch etwas anzubieten haben: „Wir bieten nicht nur die Möglichkeit, ihr Geld gewinnbringend anzulegen, sondern auch das soziale Kapital der Gesellschaft zu erhöhen. Der Arbeitskräftemangel im MINT-Bereich ist enorm. Allein in der IT gibt es fast 60.000 offene Stellen und diese Zahl wächst. Investitionen zur Schließung der MINT-Lücke sind also sowohl sozial als auch wirtschaftlich sinnvoll.“

Ariana Barrenechea, Sonia Gonzales und Nicole Oubre sind voller Energie. Und Zuversicht. „Wir müssen das einfach tun“, sagen sie. „Wir haben die Fähigkeiten und den Mut zu diesem Startup und wir sind die richtigen Frauen für diesen Job.“ Klingt sehr selbstbewusst? „Naja, das war nicht von Anfang an so“, sagt Ariana. „Natürlich hatten wir auch Zweifel. Wir sind drei Frauen, die nicht aus Deutschland, sondern den USA und aus Peru kommen. Wir lieben dieses Land, aber wir hätten nie gedacht, dass wir während des Studiums ein Unternehmen in einem fremden Land gründen würden! Die Sprache war natürlich erstmal eine Barriere, aber wir lernen so schnell wie möglich Deutsch. Und inzwischen wissen wir, dass wir das, was wir uns vorgenommen haben, wirklich schaffen können. Das ist schon ein tolles Gefühl.“

Übrigens: Für die Workshops suchen Ariana, Sonia und Nicole noch Studierende, die sie ehrenamtlich bei der Durchführung unterstützen. Wer Lust hat, dabei zu sein, kann sich unter E-Mail: info@mintygirls.com melden.

Weitere Informationen:
www.mintygirls.com

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„Das Weibliche hat etwas Anderes“: Anne Rademacher leitet als eine der ersten Frauen in Deutschland ein katholisches Seelsorgeamt https://weltbeweger.uni-erfurt.de/2019/09/09/weltbeweger-anne-rademacher/ Mon, 09 Sep 2019 08:00:48 +0000 https://weltbeweger.uni-erfurt.de/?p=938 Es heißt „Nomen est Omen“, also „der Name ist ein Vorzeichen“. Unter diesem Gedanken mutet es direkt ein wenig sarkastisch an, wenn man bedenkt, wo das Herz des Bistums Erfurt schlägt. Nämlich am Herr-mannsplatz. Hier, im Schatten des Erfurter Doms... Weiterlesen →

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Es heißt „Nomen est Omen“, also „der Name ist ein Vorzeichen“. Unter diesem Gedanken mutet es direkt ein wenig sarkastisch an, wenn man bedenkt, wo das Herz des Bistums Erfurt schlägt. Nämlich am Herr-mannsplatz. Hier, im Schatten des Erfurter Doms – dem regionalen Symbol einer von Männerhand regierten Weltkirche – liegt das bischöfliche Ordinariat, die oberste Verwaltungsstelle des Bistums.

Und von hier gehen einige seiner wichtigsten Adern ab: das Priesterseminar in der Holzheienstraße, die katholische Akademie am Fischersand und auch das Seelsorgeamt in der Regierungsstraße. Die verschiedenen Einrichtungen greifen ineinander, ergänzen und stützen sich und tragen dazu bei, dass sich Katholikinnen und Katholiken in Erfurt und Umland ein kultureller Raum bietet, in dem sie ihren Glauben leben und gestalten können.

Doch die Gemeinschaft am Herrmannsplatz ist keine reine Herrenrunde. Obgleich die katholische Kirche Frauen nicht zu Priesterinnen weiht und ihnen damit den Zugang zu klerikalen Leitungsposten verwehrt, gibt es sie doch: Frauen, die Kirche machen. So auch im Seelsorgeamt. Hier gibt seit sieben Jahren eine Alumna der Universität Erfurt den Ton an – und dieser Ton ist dezidiert weiblich.

„Es muss ein Zueinander der Geschlechter geben.“

Anne Rademacher

Anne Rademacher schloss 1998 ihr Studium der katholischen Theologie in Erfurt ab. Damals noch am Philosophisch-Theologischen Studium, aus dem 2003 die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Erfurt hervorging. 2011 wurde sie an der Reformuniversität promoviert. Ein Jahr später trat sie die Stelle als Leiterin des Seelsorgeamtes an. Seither plant sie die „Pastoral“ und deren Entwicklung im Bistum.

Ihr Büro in der Regierungsstraße ist groß. Fast ein wenig zu groß für die eher spartanische Einrichtung. Das Einzige, wovon es hier reichlich gibt, sind Aktenberge, unter denen sich ihr Schreibtisch biegt. Die Stapel sind mehr als nur ein Sinnbild für all die Arbeit, die täglich über ihren Tisch wandert. Und all die Verantwortung.

Als Anne Rademacher 2012 die Leitung des Seelsorgeamtes übernahm, war sie damit bundesweit erst die zweite Frau in dieser Position. Seither ist viel an der Geschlechterfront der katholischen Kirche geschehen: Heute unterstehen immerhin schon acht Seelsorgeämter in deutschen Bistümern einer weiblichen Leitung. In einer Kirche, in der es nur exklusiv männliche Priester gibt, gäbe es zunehmend auch einen Blick dafür, dass es in den Gemeinden „dennoch ein Zueinander der Geschlechter geben muss, dass es beide Geschlechter braucht“, befindet die Theologin.

„Ich bekomme nicht automatisch den Platz vorn auf der Altarinsel zugewiesen. Das macht einen Unterschied.“

Anne Rademacher

Dass es in Ergänzung zur männlich geprägten Denkmustern auch eine spezifisch weibliche Perspektive auf Kirche braucht, liegt für Rademacher auf der Hand. Auch weil sich in ihr „eine andere Herangehensweise“ verberge. „Das Weibliche hat etwas Anderes“, erklärt sie. „Das erlebe ich auch an mir selbst. Es ist die Perspektive aus dem normalen Gottesvolk, die ich habe.“

Diesen Perspektivwechsel erläutert die Katholikin lebensnah anhand ihres eigenen Alltags: Wenn sie etwa ein Gottesdienst besucht, dann sucht sie sich einen Platz im Kirchenschiff wie alle anderen auch. „Ich bekomme nicht automatisch den Platz vorn auf der Altarinsel zugewiesen. Das macht einen Unterschied.“ Sobald sie ein Gotteshaus betrete, sei sie „ein normales Kirchenmitglied“, kein herausgestellter Amtsträger wie der Priester, der die Messe leitet. Und genau das habe „einen gewissen Charme, weil das ja genau die Perspektive ist, die die Leute haben, mit denen wir Kirche gemeinsam gestalten wollen“, sagt die Seelsorgeamtsleiterin.

Ihre Einschätzung steht im Einklang mit einem kritischen Diskurs, der derzeit über Formen des Klerikalismus in der katholischen Kirche geführt wird. Es geht dabei um die Macht von Klerikern, also Geistlichen, gegenüber Laien, also den Nicht-Geweihten. Und es geht um die Frage, wie Kirche gemeinsam gestaltet, wie sie gemeinsam erneuert werden kann, ohne den einen zu bevorzugen und den anderen zu benachteiligen.

Gemeinsam zu gestalten, ist der gebürtigen Thüringerin, die in Frankfurt (Oder) und damit in der tiefsten Diaspora – also einem Kulturraum, in dem katholische Christen eine Minderheit darstellen – aufgewachsen ist, ein großes Anliegen. Gerade auch in ihrer Funktion als Amtsleiterin, als Vorgesetzte und als Personalverantwortliche. Dass es dabei „typisch männlich“- und „typisch weiblich“-sozialisierte Eigenschaften gibt, davon ist Anne Rademacher überzeugt. Männer hätten demnach die Neigung, einen eher autoritären Leitungsstil zu verfolgen. Frauen hingegen setzen nach ihrer Einschätzung deutlich mehr aufs Verhandeln. „Daraus ergibt sich eine kommunikativere Form der Leitung“, urteilt sie.

„Mir war eine kollegiale Form der Leitung wichtig.“

Anne rademacher

Ein solch kommunikativer Führungsstil zeichnet seit jeher die Arbeit der Theologin aus. Als sie vor sieben Jahren die Leitung im Seelsorgeamt übernahm, zog sie als erstes eine Zwischenebene in dessen Organisationsstruktur ein. „Davor war es so, dass man entweder Referentin sein konnte oder Chefin. Dazwischen gab es nichts“, erinnert sie sich.

Heute hat Anne Rademacher vier Bereichsleiter ‚unter sich‘, zwei davon sind Frauen. Ihr sei eine „kollegiale Form der Leitung“ wichtig, betont sie. Um klar abgrenzbare Zuständigkeiten zu schaffen, aber auch um amtsintern eine neue Gesprächskultur zu etablieren, die einen Dialog auf verschiedenen Ebenen ermöglicht und den Prozess einer gemeinsamen Entscheidungsfindung fördert. Wenn Frauen Leitung übernehmen, dann sei das einfach „ein anderer Stil“, befindet die Alumna der Uni Erfurt.

Ihre Einschätzung wirft die Frage auf, ob vielleicht genau dieser Stil der katholischen Kirche einen Ausweg aus ihrer aktuellen Imagekrise zeigen kann. Schließlich krankt die Weltkirche massiv an dem Vorwurf, als Institution zu einseitig, zu sehr männlich dominiert zu sein. „Ich glaube, für sich genommen nicht“, urteilt sie nach einer kurzen Gedankenpause. „Der weibliche Stil läuft manchmal durchaus auch Gefahr, keine Entscheidungen zu treffen. Doch genau die müssen natürlich auch sein.“

Es sei deshalb eine Kombination aus vermeintlich maskulinen und femininen Kommunikationspraktiken, die es brauche, resümiert die Theologin. Damit bekennt sie sich abschließend einmal mehr zu einem Denken, das von einem tiefen Bedürfnis nach Dialog und Austausch getragen wird – einem durch und durch kommunikativen Führungsstil eben.

Foto: Nadine Grimm, Bistum Erfurt

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Der Seele einen Schutzraum bieten: Cornelia Aßmann betreut Menschen in den ersten Stunden nach einem Verlust https://weltbeweger.uni-erfurt.de/2019/09/09/weltbeweger-cornelia-assmann/ Mon, 09 Sep 2019 07:46:18 +0000 https://weltbeweger.uni-erfurt.de/?p=953 Es ist der Alptraum schlechthin: Wenn es an der Haustür klingelt und man unerwartet der Polizei öffnet. Wenn sie die Nachricht überbringen, dass es einen Unfall gegeben hat, dass es Tote gab. Wenn sich die Erkenntnis, dass ein geliebter Mensch... Weiterlesen →

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Es ist der Alptraum schlechthin: Wenn es an der Haustür klingelt und man unerwartet der Polizei öffnet. Wenn sie die Nachricht überbringen, dass es einen Unfall gegeben hat, dass es Tote gab. Wenn sich die Erkenntnis, dass ein geliebter Mensch von jetzt auf gleich einfach nicht mehr da ist, durchs Hirn und ein lodernder Schmerz durchs Herz frisst. Wer bietet den Empfängern einer solchen Botschaft in diesen Momenten Halt? Wer ist da in den ersten Stunden der Not? Die Polizei formal nicht. „Mit der Überbringung der Todesnachricht ist der Job der Beamten beendet“, erklärt Cornelia Aßmann. „Danach übernehmen wir.“

Wir, das sind ehrenamtliche Männer und Frauen der Notfallseelsorge. Sie begleiten die Polizistinnen und Polizisten und überbringen gemeinsam mit ihnen die Nachricht, die niemand jemals bekommen möchte. Sie bieten den Halt, den die Staatsdiener oft nicht leisten können. Weil es nicht deren Aufgabe ist. Weil sie im Dienst unter Zeitdruck stehen. Und weil sie dafür nicht ausgebildet sind. „Während der Polizeiausbildung gibt es gerade einmal ein oder zwei Stunden, in denen der Umgang mit Angehörigen thematisiert wird. Mehr nicht“, sagt die Seelsorgerin. Und sie weiß auch, dass das viel zu wenig ist, um den oft kaum beherrschbaren menschlichen Gefühlen nach einem Verlust gerecht zu werden.

„Wir sind ein Pflaster. Wir sind das, was man aufbringt,
wenn die Wunde noch blutet.“

Cornelia Aßmann

Aßmann, die hauptberuflich als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Erfurt tätig ist, will in dieses Gefühlschaos und die seismografische Erschütterung, die es für das Leben der Betroffenen bedeutet, hineinwirken. Stabilisierend. Lindernd. Manchmal mit Gesprächen. Manchmal aber auch einfach nur, indem sie sich schweigend zu einem Menschen setzt, der gerade den letzten Angehörigen auf dieser Welt verloren hat. „Wir sind ein Pflaster“, versinnbildlicht sie die Arbeit der Notfallseelsorge. „Wir sind das, was man aufbringt, wenn die Wunde frisch geschlagen ist und noch blutet.“

Oft geht es in ihrer Arbeit auch darum, Hilfestellung in formalen Angelegenheiten zu bieten: erste Vorbereitungen für eine Beerdigung treffen etwa oder aber auch wichtige Fragen mit den Behörden klären – all das also, wofür vielen Menschen nach Erhalt einer überraschenden Todesnachricht schlichtweg die Kraft fehlt. Für die langfristige Nachbetreuung, die Bewältigung von Trauer und die Reintegration der Hinterbliebenen in den Lebensalltag, gibt es andere Angebote. Doch dazu eben diese wahrzunehmen, müssen die Menschen oft erst ermutigt werden. Auch dadurch, dass sie in den ersten Stunden der akuten Not erkennen, dass sie nicht allein sind. Dass es Hilfe gibt, wenn sie Hilfe brauchen.

„Dieser Wunsch nach Unsterblichkeit der Seele ist immer da. Immer.“

Cornelia Aßmann

Seit 2015 arbeitet Cornelia Aßmann als Freiwillige in der Notfallseelsorge – zweimal im Monat mit Rufbereitschaft für jeweils 24 Stunden. Derzeit sogar noch mehr, denn das Team aus Notfallseelsorgerinnen und -seelsorgern ist chronisch unterbesetzt. An Statur ist die Wissenschaftlerin eher klein, eher zart. Ihr Wesen ist aufgeschlossen und freundlich, aber auch durchsetzt von einer ruhigen und bedächtigen Ausstrahlung. Man kann sich gut vorstellen, sich ihr zu öffnen, sie teilhaben zu lassen an Gedanken und Emotionen, selbst an den dunkelsten.

Und doch fragt man sich, woher diese zierliche Person die Kraft nimmt, um sich dieser Aufgabe zu stellen, die auch immer einen emotionalen Verschleiß am eigenen Leib bedeutet. „Ich habe eine gute Eismaschine“, erklärt sie lachend. Eis als Balsam für die Seele. Auch die eigene. Mit mehr Ernsthaftigkeit in der Stimme fährt sie fort: „Und natürlich finde ich Halt in meinem Glauben.“

Der Glaube ist der promovierten Theologin wichtig. Er ist Antrieb und Ventil zugleich. Außerdem ist Cornelia Aßmann als Ehrenamtliche für die Caritas tätig, einen kirchlichen Träger. Doch obwohl das Konzept der Seelsorge christliche Wurzeln hat, wird sie heute weder exklusiv von Christinnen und Christen angeboten, noch ausschließlich von ihnen in Anspruch genommen. „Seelsorgerische Dienste stehen allen offen, die sie brauchen“, erläutert die Katholikin.

Mit ihrer Arbeit will Cornelia Aßmann „der Seele einen Schutzraum bieten“, sagt sie. Die Vorstellung, dass es überhaupt so etwas wie eine unsterbliche Seele gibt, ist dabei ein wiederkehrendes Element in all ihren Einsätzen. Wiederkehrend selbst bei Menschen, die sich zu keinem Glauben und damit zu keiner religiös gestützten Vorstellung von einer Seele bekennen. In den neuen Bundesländern ist das mit 74 Prozent immerhin die große Mehrheit. Auch die Mehrheit der Menschen, mit denen die Seelsorgerin in Berührung kommt, gehören keiner religiösen Gemeinschaft an.

Und trotzdem: „Ich habe schon mit Atheisten gearbeitet, die darum baten, das Fenster zu öffnen, damit die Seele des Verstorbenen nach draußen gelangen kann“, erinnert sich die Seelsorgerin. Sie erinnert sich an Witwen, die fragten ob ihr verstorbener Mann sie noch hören könne. An Kinder, die davon überzeugt waren, dass sie nun einen Teil der Seele des verunglückten Vaters in sich trügen. „Dieser Wunsch nach Unsterblichkeit der Seele ist immer da“, sagt sie. „Immer.“

Mit ihrem Ehrenamt bewegt sich Cornelia Aßmann damit entlang der „großen Fragen“ des Lebens. Antworten auf ähnlich große Fragen sucht sie derweil auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Theologie und Exegese des Alten Testamentes. Dort arbeitet sie derzeit an ihrer Habilitation. Ihre ehrenamtliche Tätigkeit ist dabei ein ganz bewusster Ausgleich für die akademische Arbeit: „Ich arbeite den ganzen Tag mit Büchern“, beschreibt die Wissenschaftlerin ihre berufliche Praxis. „Mein Ehrenamt bietet mir zum Ausgleich die Möglichkeit, mit Menschen und deren akuten Bedürfnissen in Austausch zu kommen.“ Zwischen den großen Fragen der Theologie und einem Diensthandy mit Weiterleitung zur Rettungsleitstelle, leistet Cornelia Aßmann dabei selbst Großes, indem sie im Kleinen wirkt: an der menschlichen Seele in ihren wohl verletzlichsten Momenten.

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„Reading on Wheels“: Hannah Saley und Jhon Magkilat motivieren philippinische Straßenkinder zum Lernen https://weltbeweger.uni-erfurt.de/2019/08/29/weltbeweger-reading-on-wheels/ Thu, 29 Aug 2019 06:39:03 +0000 https://weltbeweger.uni-erfurt.de/?p=882 Für die Kinder, die auf den Straßen von Cagayan de Oro, einer der größten Städte der Philippinen, leben, ist das Leben nicht einfach. Nicht wenige von ihnen landen in der Drogenabhängigkeit oder Prostitution. Hannah Saley und Jhon Mateo Magkilat, zwei... Weiterlesen →

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Für die Kinder, die auf den Straßen von Cagayan de Oro, einer der größten Städte der Philippinen, leben, ist das Leben nicht einfach. Nicht wenige von ihnen landen in der Drogenabhängigkeit oder Prostitution. Hannah Saley und Jhon Mateo Magkilat, zwei Studierende der Willy Brandt School of Public Policy an der Uni Erfurt wollten dagegen etwas unternehmen. Und gründeten 2015 das Projekt „Reading on Wheels“. Unterstützer fanden sie im Ateneo Diplomatic Corps und in Studierenden des International Studies Department der Xavier Universität, an der Jhon zuvor studiert hatte. Und auch das Preisgeld aus dem Commitment Award, den sie 2015 für ihre Projektidee gewannen, half dabei, sie Wirklichkeit werden zu lassen.

Die Idee ist im Grunde denkbar einfach – nämlich, einen Wagen, gefüllt mit Büchern und Schreibmaterial auf die Straße zu bringen, der die Straßenkinder zum Lesen und Lernen motivieren und sie inspirieren soll, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. „Zugleich wollen wir mit dem Projekt nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Werte wie Respekt und Integrität“, erklärt Hannah Saley. Dafür war es aber zunächst wichtig, das Vertrauen der Straßenkinder zu gewinnen. Gelungen ist dies beispielsweise dadurch, dass eine Reihe von Freiwilligen, Studierende der Xavier Universität, den Kindern erst einmal nur vorgelesen haben. Mit durchschlagender Wirkung – das Projekt ist inzwischen deutlich gewachsen und wurde bereits in weiteren Gemeinden in der Region angestoßen.

„Darüber bin ich sehr froh“, sagt Jhon, der selbst aus Cagayan de Oro kommt und die Not vor Ort mit eigenen Augen gesehen hat. „Ich habe beobachtet, wie die Zahl der Straßenkinder stetig zunahm. Die Kinder verbrachten den ganzen Tag damit, zu betteln oder sich mit kleinen Gaunereien oder Drogen über Wasser zu halten. Aber diese Kinder könnten auch die zukünftigen Lehrer, Ingenieure, Ärzte, Anwälte oder Geschäftsleute der Welt sein, wenn sie nur die Chance hätten, zu lernen und ausgebildet zu werden.“ Und so nahmen Hannah und Jhon Kontakt zu den Studierenden der Xavier Universität auf, um sie als Freiwillige für ihr Projekt vor Ort zu gewinnen. Sie ließen sich nicht lange bitten, sodass die Erwartungen an „Reading on Wheels“ sogar weit übertroffen werden konnten.

„Im Grunde haben wir Hilfe zur Selbsthilfe gegeben und gezeigt, dass man selbst etwas bewegen kann.“

Hannah Saley

Seit 2015 läuft die Initiative und wächst beständig. Inzwischen haben sich weitere Geldgeber wie z.B. die US-Botschaft in Manila, der Rotary Club und das Roten Kreuz gefunden, durch die das Projekt auch andere Regionen und die Küstengebiete erreichen konnte. „Wir haben damals einen Stein ins Rollen gebracht, der nach wie vor rollt“, sagt Hannah. „Im Grunde haben wir Hilfe zur Selbsthilfe gegeben und gezeigt, dass man selbst etwas bewegen kann. Das macht uns zufrieden und natürlich auch ein bisschen stolz. Es ist ermutigend, zu wissen, dass wir mit dem Projekt einen kleinen Teil dazu beigetragen haben, das Leben der Kinder zu verbessern und ihnen Chancen zu eröffnen. Und auch für mich selbst ist unsere Initiative eine Bereicherung. Denn als wir mit der ganzen Sache angefangen haben, hatte ich nicht viel Erfahrung mit Projektsteuerung. Ich habe durch die Zusammenarbeit mit Jhon und unseren lokalen Partnern so viel gelernt. Ich würde sogar sagen, das ist eine Erfahrung, die einen wesentlichen Einfluss darauf hatte, wer ich heute bin.“ Jhon pflichtet ihr bei: „Es bereitet uns so viel Freude, zu sehen, dass unsere Idee Wirklichkeit geworden ist und immer weiter wächst. Das motiviert mich, noch mehr zu tun und vielleicht eines Tages meine eigene Stiftung oder gemeinnützige Organisation zu gründen.“ Und so hat der heute 29-Jährige auch schon neue Pläne: „Im Frühjahr erhielten wir die Nachricht, dass unser Projekt künftig auch vom US-Außenministerium und Gawad Kalinga, einer Bewegung zur Armutsbekämpfung auf den Philippinen, unterstützt wird, damit es weiter ausgebaut werden kann. Dadurch haben wir nun die Möglichkeit, ein Fahrzeug anzuschaffen, mit dem wir auch weiter entfernte Gemeinden und benachbarte Provinzen erreichen können. Darüber hinaus konnten wir ein Stück Land bekommen, auf dem Gemeinschaftshäuser gebaut werden und eine Art Drehkreuz für „Reading on Wheels“ errichtet werden könnte.“

Ob es auch Rückschläge gegeben hat, fragen wir Jhon und Hannah. „Ja natürlich gab es die. Zum Beispiel war es nicht leicht, dass Jhon in Deutschland lebt und ich in Kanada war. Ein Projekt auf diese Distanz zu managen, war schon eine Herausforderung. Die wir aber dank der großen Unterstützung der Studierenden vor Ort bewältigen konnten. Aber wir haben auch erlebt, dass Straßenkinder schlicht Angst davor hatten, unser Angebot wahrzunehmen, weil sie fürchteten, von der Kommunalverwaltung ‚eingesammelt‘ und in Fürsorgeeinrichtungen untergebracht zu werden. Von dort laufen aber viele der Kinder immer wieder weg, weil sie sich dort nicht wohlfühlen. Und so mussten wir zunächst eine Vereinbarung mit der lokalen Verwaltung treffen. Aber zum Glück ist uns auch das gelungen.“

„Mich hat immer wieder beeindruckt, dass die Kinder trotz ihrer schwierigen Lebenssituation so positiv in den Tag gehen.“

Jhon Mateo Magkilat

Wenn Jhon und Hannah über die vergangenen vier Jahre nachdenken, dann bleibt ihnen – so sagen sie – vor allem das Lachen der Kinder in Erinnerung, mit denen sie gespielt, gelesen und gelernt haben. Ihre Geschichten, ihre Träume. „‘Reading on Wheels‘ ist eine Brücke, die neue Beziehungen zwischen Studierenden und Straßenkindern geschaffen hat, zwischen zwei völlig entgegengesetzten sozialen Schichten, die plötzlich zu einer Gemeinschaft wurden“, sagt die 28-jährige Hannah. Und Jhon ergänzt: „Mich hat immer wieder beeindruckt, dass die Kinder trotz ihrer schwierigen Lebenssituation so positiv in den Tag gehen. In der Hoffnung, dass sie sich eines Tages aus ihrer Armut und Not befreien und ein gutes Leben führen werden. Da wurde mir klar, wie gesegnet und glücklich ich eigentlich selbst bin.“ Und auch Hannah hat das Projekt stark beeinflusst: „Zu sehen, wie sich eine Gemeinschaft durch eine solche Initiative im Positiven verändern kann, macht mich in gewisser Weise demütig. Ich habe erkannt, dass ich selbst dazu in der Lage bin, das Leben anderer zu verbessern, Haltung zu zeigen und Gutes anzustoßen. Mein Studium an der Brandt School hat mich auf diesen Weg geführt und dafür bin ich sehr dankbar.“

Der Beitrag „Reading on Wheels“: Hannah Saley und Jhon Magkilat motivieren philippinische Straßenkinder zum Lernen erschien zuerst auf Weltbeweger.

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