„Wir reisen nicht gern in die Welt – aus ökologischen Gründen“, erklärt Dietlinde Schmalfuß-Plicht. „Aber wir haben die Welt sehr gern bei uns zu Gast.“ Und deswegen öffnet die Mitarbeiterin der Universitätsbibliothek Erfurt immer wieder Gästen aus aller Welt nicht nur Haus und Hof, sondern auch Herz und Seele: Seit 2007 beteiligt sie sich am Programm „Fremde werden Freunde“ – einer gemeinsamen Initiative der Erfurter Hochschulen sowie der Stadtverwaltung und des Thüringer Instituts für Akademische Weiterbildung. Ziel des Programms ist es, ausländischen Studierenden in Erfurt den Einstieg in den „deutschen Alltag“ zu erleichtern und ihnen fernab der Heimat „ein Gefühl von zuhause“ zu vermitteln.
Ein solches Gefühl haben in den vergangenen zwölf Jahren immerhin schon sechs ‚Patenkinder‘ bei Schmalfuß-Plicht und ihrer Familie gefunden: Gemeinsam gestalten sie die Freizeit, helfen bei der Orientierung in der fremden Stadt und meistern gelegentlich auch schon einmal die Herausforderungen deutscher Bürokratie. „Einmal hatten wir einen iranischen Doktoranden als Patenkind. Der hatte bei unserem ersten Treffen auch prompt einen Brief von der Versicherung dabei“, erinnert sich die Patin lachend.
Wie sehr das Angebot angenommen werde, das sei von Patenkind zu Patenkind verschieden, erzählt sie. Man könne ja auch vorher nicht wissen, was für einem Menschen man da begegne. Doch an einem Angebot zur Gemeinschaft mangele es keinesfalls: Über die individuellen Betreuungsverhältnisse hinaus treffen sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Programms zweimal im Jahr zu gemeinsamen Unternehmungen: Schlauchbootfahren auf der Saale zum Beispiel. Oder aber Sommerrodeln auf dem Inselsberg.
„Der Umgang mit Menschen anderer Kulturen verändert auch mein eigenes Denken.“
Dietlinde Schmalfuß-plicht
Aus einigen der Bekanntschaften, die Dietlinde Schmalfuß-Plicht und ihr Ehemann im Rahmen des Programms „Fremde werden Freunde“ geknüpft haben, entwickelten sich zum Teil tatsächlich langjährige Freundschaften: Mit einem Lächeln auf den Lippen erinnert sie sich an eine junge Frau aus Rumänien, die seinerzeit an der Willy Brandt School studierte. Heute arbeitet sie in Brüssel für die Europäische Union; spricht nur noch wenig Deutsch. Trotzdem ruft sie jedes Jahr zu den Geburtstagen ihrer einstigen Pateneltern an. Auch ihre eigene Mutter habe sie schon mit ihnen bekannt gemacht. „Das war ihr wichtig.“
Ein anderer Freund ist ein junger Iraner, der heute in Hamburg lebt und dort mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat – genau der, der damals den Brief von der Versicherung im Gepäck hatte. „Bis heute fragt er jedes Jahr an, ob er uns an Weihnachten besuchen und gemeinsam mit uns feiern kann. Und dass, obwohl er Moslem ist!“
An die internationalen Weihnachtsfeste, die Familie Schmalfuß-Plicht den vergangenen Jahren gefeiert hat, erinnert sich die Bibliotheksmitarbeiterin besonders gern. „Wie nennen es unsere ‚muslimische Weihnacht‘“, erzählt sie schmunzelnd. „Denn obwohl wir Christen sind und mein Mann selbst evangelischer Pfarrer ist, haben wir meist überwiegend muslimische Gäste um den Tannenbaum sitzen.“
Genau das ist es, was Schmalfuß-Plicht so mag: Wenn verschiedene Kulturen und Brauchtümer aufeinandertreffen und der eine vom anderen etwas Neues lernen kann. Auch, weil sie selbst an diesem Austausch wächst: „Der Umgang mit Menschen anderer Kulturen verändert mein eigenes Denken“, erklärt die studierte Philosophin, die parallel zu ihrer Tätigkeit an der Universität Erfurt eine philosophische Praxis in Erfurt besitzt. Dort bietet sie Menschen die Möglichkeit zum Dialog an. Regelmäßig lädt sie auch zu einem „Philosophischen Salon“ ein.
„Es ist ganz wichtig, sich über die fremde Kultur erzählen oder sie sich vorleben zu lassen.“
Dietlinde Schmalfuß-plicht
Im Kern ähneln sich ihre Arbeit in der philosophischen Praxis und das Programm „Fremde werden Freunde“ dabei sehr: Beide wollen im Austausch bleiben über verschiedene Weltanschauungen und Überzeugungen, über Ideen sowie Fragen des Werdens, des Seins und des Vergehens. Auch ihre internationalen Gäste nehmen das Angebot der philosophischen Praxis gelegentlich wahr, freut sich die Praxisinhaberhin: „Einmal hat ein Studierender selbst einen philosophischen Salon gestaltet“, erzählt sie. Es sei an diesem Abend um das Denken und das Weltbild des Islams gegangen. Ein im Zuge von globaler Migration und Flüchtlingskrise andauernd aktuelles Thema.
Das Programm „Fremde werden Freunde“ bietet damit nicht nur Studierenden aus aller Welt Halt und Stabilität. Auch die Universität, die Stadt Erfurt und natürlich die Menschen, die hier leben und sich im Programm engagieren, können von dem Austausch profitieren: „Ich denke, dass man Vorurteile abbauen kann, wenn man die Menschen persönlich kennenlernt. Es ist ganz wichtig, sich über die fremde Kultur erzählen oder sie sich vorleben zu lassen“, sagt Dietlinde Schmalfuß-Plicht.
Auch sie selbst habe – bei aller Erfahrenheit im internationalen Umgang – durchaus Themen, an denen sie auch nach vielen Kontakten noch immer „knabbere“. Der Ramadan zum Beispiel. Zwar sei ihr als Christin das Konzept der Fastenzeit keineswegs fremd, erklärt sie. Jedoch erscheine es ihr widersinnig, am Tag weder essen noch trinken zu dürfen, dafür aber bei Nacht. „Es fällt mir schwer, dafür Verständnis aufzubringen. Gerade wegen der gesundheitlichen Risiken. Aber man muss derlei fremde Bräuche auch tolerieren und annehmen können.“
Genau das ist es, was für Dietlinde Schmalfuß-Plicht den Kern einer Freundschaft ausmacht: „Ich verstehe unter Freundschaft, dass ich jemanden auch sein lassen kann, wie er eben ist. Und dass man nicht immer seine eigene Ansicht aufstülpen muss. Das ist auch das, was zu ‚Fremde werden Freunde‘ gehört.“