Regelmäßig wird sie von fremden Menschen angesprochen. An Bahnhöfen zum Beispiel. Oder auch schon einmal zwischen Kartoffeln und Zwiebeln im Supermarkt: Sie sei doch die Frau, die für den Papst arbeite. Die, die sich für den Kinderschutz engagiere. Wenn man sie darauf anspricht, dann freut das Prof. Dr. Myriam Wijlens. Denn es zeigt, dass die Arbeit der Theologin nicht nur im Dunstkreis der katholischen Kirche wirkt, sondern dass sie dort ankommt, wo sie ankommen soll: nicht allein bei Kirche und Klerus, sondern auch bei ganz alltäglichen Menschen – Menschen, wie man sie eben an Bahnhöfen oder in Supermärkten trifft.
Die Kirchenrechtlerin der Universität Erfurt engagiert sich umfassend im internationalen Kinder- und Jugendschutz. „Seit mehr als 30 Jahren bin ich an dem Thema dran“, sagt sie. Weit bevor die großen kirchlichen Missbrauchsskandale durch die deutschen Medien rollten also. Weit vor der MHG-Studie von 2018. Weit vor „Spotlight„, dem Medienspektakel, das 2002 tausendfachen sexuellen Missbrauch durch römisch-katholische Priester in den USA an die Öffentlichkeit brachte und die Kirche anschließend international in eine schwere Krise stürzte. Eine Krise, die bis heute nicht ausgestanden ist.
Wijlens betrachtet die Krisenherde dabei sowohl auf internationaler als auch lokaler Ebene: In den späten 1980er Jahren engagierte sie sich zunächst in Kanada. Dort mussten Leitlinien für Bischöfe, denen konkrete Hinweise auf Fälle sexuellen Missbrauchs im eigenen Bistum vorlagen, entwickelt werden. Mitte der 1990er Jahre war sie an der Entwicklung ähnlicher Richtlinien für die katholische Kirche in den Niederlanden beteiligt. 2004 schließlich wurde die Theologin erstmals auch von einem deutschen Bischof damit beauftragt, einer Anzeige aus kirchenrechtlicher Perspektive nachzugehen. Im Jahr darauf zog die Bundesstaatsanwaltschaft in Irland sie als Expertin in einem laufenden Gerichtsverfahren bezüglich fahrlässigen Handelns durch kirchliches Leitungspersonal hinzu.
„Wir wollen Institutionen vertrauen können.“
Prof. Dr. Myriam Wijlens
In mehr als 100 Verfahren war Prof. Wijlens inzwischen tätig. Sie geht dabei stets konkreten Fällen nach und bereitet notwendige Akten für den Vatikan vor. Basierend auf dieser umfassenden Erfahrung ernannte sie Papst Franziskus im vergangenen Jahr zum Mitglied der „Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen“. Als Kommissionsmitglied ist es ihre Aufgabe, den Bischof von Rom in Fragen des Kinderschutzes zu beraten: In Kooperation mit Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Fachbereichen spricht die gebürtige Niederländerin Handlungsempfehlungen im Hinblick auf Missbrauchsprävention, Opferschutz sowie den Ablauf eines Verfahrens und allgemeine Strukturen der Kirche aus. Begriffe wie Aufklärung, Transparenz, Rechenschaft, Rechte von Opfern und Beschuldigten im Verfahren stehen im Mittelpunkt ihrer Arbeit.
Die besondere Schwere des Missbrauchs durch Kleriker ergibt sich für Wijlens dabei aus dem „Vertrauensvorschuss“, den Gläubige der Kirche als moralischer Institution gewähren: „Wenn ein Kind nach der Schule einen Klassenkameraden zum Spielen besuchen möchte“, versinnbildlicht sie, „dann werden seine Eltern zumeist erklären: ‚Ich rufe mal kurz bei der Mutter an, um zu fragen, ob das in Ordnung ist‘. Im Grunde aber wollen die Eltern damit wissen, wohin ihr Kind eigentlich geht, also: Was ist das für eine Familie? Kann ich mein Kind diesem Umfeld anvertrauen? Wenn das Kind dagegen sagt, dass es nach dem Unterricht noch zum Spielen in die Pfarrgemeinde möchte, dann lassen die Eltern das in aller Regel ohne weitere Rückfragen zu. Da erkundigt man sich nicht, wer dort gerade ‚Dienst‘ hat. Weil es schließlich ‚die Kirche‘ ist. Weil wir Institutionen vertrauen wollen.“
Doch eben diese Vertrauensfrage stellt sich nicht nur in der Kirche. Sie stellt sich auch in Krankenhäusern, in Universitäten, in Schulen oder im Sportverein – kurzum: in jeglichen Institutionen und Einrichtungen, in denen Beziehungen zwischen Menschen notwendigerweise strukturiert und geordnet werden müssen. In jede dieser Strukturen sei dabei auch stets ein Mindestmaß an Vertrauen eingewoben, betont die Theologin. Vertrauen nämlich gegenüber jenen Menschen, die die Institution repräsentieren. „Und dieses Vertrauen kann missbraucht werden“, so Wijlens. „Zum einen direkt durch die Menschen, die vor Ort tätig sind. Zum anderen aber natürlich auch durch diejenigen, die Verantwortung für die Strukturen der jeweiligen Institution tragen. Für letztere geht damit auch die Frage einher, wie Sie mit ihrer Macht und Leitungsverantwortung im Hinblick auf etwaige Anschuldigungen zu Missbrauchsfällen umgehen. Es stellt sich dann etwa die Frage, wie mit konkreten Beschuldigungen umzugehen ist, während gleichzeitig die vertrauenswürdige Außendarstellung der Institution aufrecht erhalten bleiben soll.““
„Ich will zeigen, dass die Theologie etwas leisten kann.“
Prof. Dr. Myriam Wijlens
Aus diesem Grund betrachtet die Kirchenrechtlerin Aspekte des Kinder- und Jugendschutzes nicht allein im Kontext der Religion. Sie will den Blick öffnen – für sich selbst, aber auch für andere. Und sie will zeigen, dass „die Theologie etwas leisten kann.“ Dass sie etwas zu sagen hat, auch in kirchenfernen Anwendungsbereichen. Deswegen bietet Myriam Wijlens an der Universität Erfurt seit vielen Jahren gleich zwei Lehrveranstaltungen zum Thema Kinder- und Jugendschutz an: Im Rahmen des Seminars „Missbrauch in Institutionen“ sowie in der Vorlesungsreihe „Kindeswohl: Rechte – Schutz – Förderung“ will sie Studierende für das Thema sensibilisieren und sie zum eigenverantwortlichen und selbstwirksamen Umgang mit Missbrauchsprävention ermächtigen.
Besonders erfreut ist die Professorin dabei über die große Heterogenität der Studierenden, die in ihren Lehrveranstaltungen zusammenfinden: „Sie kommen zum Beispiel aus den Staatswissenschaften, aus der Pädagogik und aus dem Lehramt“, erzählt sie. „Ich habe pro Semester mehr als 130 Studierende in diesen Lehrveranstaltungen sitzen, die nichts mit Theologie zu tun haben, die aber von den Überlegungen der Theologie lernen wollen.“
Und zu lernen gibt es viel, davon ist Myriam Wijlens überzeugt. Und für jeden etwas Anderes: Studierende der Rechtswissenschaften animiert sie dazu, mit einem Richter des Landgerichtes Erfurt in Kontakt zu treten. Der wiederum lädt Studierende häufig dazu ein, Prozessverhandlungen vor Gericht beizuwohnen. Nirgendwo ließe sich besser zeigen, dass dort auf der Anklagebank in aller Regel „keine Monster“ sitzen, sondern gewöhnliche Menschen, wie man sie „auch im Biergarten treffen“ könne. „Wir werden dort mit falschen Bildern in unseren Köpfen konfrontiert, die wir korrigieren müssen“, betont die Kirchenrechtlerin. Studierende der Psychologie fordert Prof. Wijlens indes dazu auf, sich mit Methoden zu befassen, wie ein fünfjähriges Kind zu vernehmen und seine Aussage auf einen Wahrheitsgehalt zu prüfen sei. Studierende der Sportwissenschaft spricht sie darauf an, welche Ausbildung ihnen selbst als zukünftigen Trainerinnern und Trainer im Hinblick auf Missbrauchsprävention zuteil geworden sei. „Meist nicht allzu viel“, resümiert sie. Denn Kinderschutz sei „so lange ein blinder Fleck, bis etwas passiert.“
Eben dieser blinde Fleck ist es, gegen den die Professorin angehen möchte. Sie will ein Bewusstsein für das oftmals weithin unsichtbare Problem schaffen und Prävention vor die Reaktion setzen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihres Seminars erhalten deshalb seit einigen Semestern ein Zertifikat, das ihnen ein erfolgreich absolviertes Präventionstraining im Umgang mit Missbrauchsfällen bescheinigt. Auf diese Weise möchte Prof. Wijlens Studierende zum proaktiven Handeln ermächtigen – etwa indem sie sich weiterführend in Kinderheimen engagieren, in pädagogischen Fördereinrichtungen oder auch in der Kinderambulanz eines Krankenhauses.
„Wir müssen die Bilder in unserem Kopf korrigieren.“
Prof. Dr. Myriam Wijlens
Denn der Kirchenrechtlerin ist es ein zentrales Anliegen, dass Resultate ihrer Arbeit nicht nur in Theologie und Kirche sichtbar werden, sondern auch in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext: „Ja, ich mache das auch für die Kirche“, sagt sie. „Aber die Kirche ist ein Vehikel für mich. Ein Vehikel, in dem meine Expertise anerkannt wird. Aber das, was wir in der Kirche in der Aufarbeitung und der Prävention von Missbrauchsfragen leisten können, sollte einen Transfer in die ganze Gesellschaft erleben. Und genau dazu kann und muss die katholische Kirche etwas beitragen. Wir müssen sagen: ‚Wir wollen Kindeswohl auf Tagesordnungspunkt eins unserer Agenda haben!'“
Dass Wijlens Kinderschutz dabei im Großen wie im Kleinen denkt, zeigt sich als sie abschließend den Blick von Rom zurück nach Erfurt wendet: „Ich halte es für wichtig, dass ausgerechnet ich als Mitglied der Katholisch-Theologischen Fakultät im Senat der Universität Erfurt sitze und dort die Frage aufwerfe, was wir auch hier ganz konkret vor Ort für den Kinderschutz tun; hier an unserer eigenen Universität, an der wir auch für und mit Kindern forschen!“ Vor Ort sein und vor Ort handeln – das ist der Theologin ein wichtiges Anliegen. Ein Anliegen, in dem sie sich jedes Mal aufs Neue bestärkt fühlt, wenn sie wieder einmal von fremden Menschen auf offener Straße auf ihr Engagement im Kinderschutz angesprochen wird.